Kolonien der Liebe
Stadtbauamt sie gesperrt. Die Fenster-läden sind abgeblättert und klappern im Wind, einige sind immer geschlossen, andere mit Paketkordel an den Halterungen festgebunden. In den Fenstern sehen wir kleine weiße Köpfe, ganz still, und nachts hören wir manchmal Schreie. Wir starren dann im Dunkeln nach drüben und denken daran, wie es sein wird, wenn wir alt sind - die Liebesgeschichten werden vorbei sein, und wir werden jedes mögliche Ende kennen. Uns wird nichts mehr erschrecken, denn wir haben jeden Schmerz schon gespürt, jeden schon zugefügt. Kein Warten mehr auf Briefträger: was sie bringen könnten, wissen wir - die albernen Karten, die verwegenen Briefe, die brennenden Telegramme. Kein Telefon mehr, niemand, der noch anrufen könnte. Musik? Wir haben die Musik im Kopf und hören sie hinter den geschlossenen Augen. Wir kennen die Bücher und erzählen uns stumm die Geschichten zu Ende. Niemand wird wissen, daß wir auf einem Zwirnsfaden über einen Abgrund gehen.
Wir haben dafür gesorgt, daß wir im Alter in einen Garten sehen können, in dem die Katze geduldig auf Vögel lauert und sie vor unseren Augen zerreißt. Als wir jung waren, glaubten wir, Grausamkeiten nicht zu ertragen. Jetzt sind wir selbst grausam, kein Lächeln mehr, keine Freundlichkeiten, nur Schreie im Traum.
Wir werden der Katze zusehen und die Erinnerung an uns selbst verlieren, und wenn uns jemand besuchen will, werden wir hinter der geschlossenen Tür böse sagen: Wir sind nicht zu Hause.
Jeden Abend um dieselbe Zeit kommt der dicke alte Mann in dem rosa Hemd mit den kurzen Ärmeln aus dem Heim, tappt mit dem Stock an der Hecke entlang und ruft: «Ei, ei, ei! Peterle!» Die vergilbte Katze mit dem grauen Punkt taucht dann auf, tänzelt vor ihm mit steilem Schwanz, läßt sich nicht fangen, nicht streicheln -
nie.
Das Dööfchen hat jetzt die Mülltonne von Rechtsanwalt Wrobel erreicht. Krachend fliegt der Deckel nach hinten, Hundefutter-dosen, Küchenabfälle, Plastikreste landen in der Vorgartenbe-grünung. Nur Zeitschriften sucht das Dööfchen, sie verschwinden in prallen Tüten, und wenn das Dööfchen sicher ist, daß keine Zeitschriften mehr in der Tonne sind, knurrt es und trollt sich weiter zu den Mülltonnen des Sternkönig-Verlags unten an der Ecke. Da finden sich immer Druckfahnen, Korrekturbögen, Papierreste. Wir warten, bis die alte Wrobel mit der Kaminzange erscheint und die tägliche Schweinerei in ihrem Vorgarten fluchend beseitigt.
Das Dööfchen ist älter geworden in letzter Zeit. Lange schien es uns zeitlos unförmig mit seinem leeren runden Kindergesicht, aber auf einmal wird der Körper schwer und das Haar grau. Noch immer trägt es grellbunte Strickjacken, die ihm die Mutter aus Wollresten strickt. Das Dööfchen wohnt mit seiner Mutter in einem großen dunklen Haus in der Nachbarstraße, und wir diskutieren oft, was schlimmer wäre: wenn zuerst das Dööfchen stürbe oder zuerst die Mutter? Wir setzen sogar Wetten aus: einer ist für die Mutter, damit das Dööfchen endlich in ein Heim kommt, einer ist für das Dööfchen, damit die Mutter noch ein paar schöne Jahre hat.
Weihnachten leuchtet in ihrem Erker immer der größte Baum weit und breit, und mich erfüllt mit Ingrimm, daß das Dööfchen so geliebt wird - um mich wurde nie Aufhebens gemacht, und ich war kein so plumpes, heiser bellendes Kind. Einmal wurde unsere Katze überfahren, wir fanden sie direkt unter dem Erkerfenster, und das Dööfchen stand hinter der Gardine und sah unbewegt zu.
Der alte Mann gibt die Jagd nach Peterle auf und geht ins Altersheim zurück. Jetzt ist es ganz still in unserer Straße, aber dann erscheint die alte Wrobel mit der Kaminzange, und fast gleichzeitig kommt der Kinderverderber mit dem dicken Hintern auf seinem Hollandrad und pfeift vor sich hin. Er fährt im Zickzack, weil er lüstern nach allen Seiten ausspäht, ob es noch irgendwo Kinder zu verderben gibt. Oft wundern wir uns, daß er noch nie über das Dööfchen hergefallen ist. Jetzt lehnt er sein Hollandrad an den Zaun des Hauses Nr. 16, in dem er wohnt, schließt es mit zwei Ketten ab und dreht sich noch einmal unschlüssig um - nichts, schade. In einigen Minuten wird in seiner Mansarde kaltes Deckenlicht aufleuchten, und dann werden wir aus dem geöffneten Fenster Marschmusik hören. Kurz darauf wird Frau Rechtsanwalt Wrobel mit ihrem Basset Elsie auf die Straße treten und grußlos an der Schwiegermutter mit der Kaminzange vorbei in Richtung
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