Kolonien der Liebe
guckten hin, und plötzlich fing Mascha an, von ihren Ängsten und verlorenen Träumen zu reden, und der kleine Dichter wachte auf und zeichnete lallend ein düsteres Szenario der Welt, und der Kranke sagte: «Was ihr für Sorgen habt, ich leb vielleicht noch drei oder vier Jahre und bin froh über jeden Teller Suppe, den ich noch essen kann, ohne mich von oben bis unten vollzusauen.»
Danach hatten sie so lachen müssen, daß sie fast von den Stühlen fielen, und der Kranke lachte auch und schrie: «Hört auf, wenn ich lache, tun mir alle Knochen weh, ich darf nicht lachen!
Was ist denn bloß so komisch daran, daß ich in drei Jahren tot bin?»
Max war gekommen, hatte sich ans Klavier gesetzt und gespielt, und es war ganz ruhig und friedlich gewesen, und ein Joint wanderte rum, ganz wie in den alten rührenden Zeiten, als wir noch keine anderen Sorgen hatten, als ein bißchen zu kirren. Ritas Atemlosigkeit wich, sie wurde weich und ruhig und dachte: Ich habe noch nie so geliebt wie in diesem Augenblick, dabei weiß ich nicht mal, wen.
Gegen halb drei klingelte das Telefon, und Lisa nahm ab. «Es ist Pit», sagte sie und hielt den Hörer zu, «er will mal wieder aus dem zwölften Stock springen.»
Der kleine Dichter nahm das Telefon und sagte: «Pit, mach keinen Quatsch, ich nehm mir jetzt ein Taxi und komm bei dir vorbei, okay?» Und dann hörte er noch einen Moment zu und sagte: «Weißt du was, verarschen laß ich mich nicht», und legte auf. «Wenn ich schon komme, sagt Pit, soll ich Pommes, Gyros und fünf Flaschen Bier mitbringen», erklärte er uns, und wieder lachten wir uns halbtot, und der Kranke rief: «Der Trick ist super, den muß ich mir unbedingt merken!»
Der Hund war endlich müde geworden und schlich neben Rita her, als sie jetzt den Weg zurück ins Tal einschlug. Sie mußte schließlich irgendwann wieder nach Hause, konnte nicht immer vor dem Anblick dieses Briefes weglaufen. Es war der letzte in einer langen Reihe von Briefen, manische Schreiber sie beide. Jeden zweiten Tag hatten sie sich in den vergangenen drei Jahren geschrieben, über Bücher und Filme, Musik, Beobachtungen, Menschen, über Träume und Pläne und das, was im Kopf und auf der Straße passiert, und immer wenn ein Brief von ihm kam, hatte ihr Mann gelächelt und gesagt: «Du und dein Max.»
Einmal hatte Max sie richtig geküßt, da saßen sie zu dritt in einem Biergarten, und er hatte eine häßliche Freundin bei sich, die er mit einem Kuß kränken wollte. Er hatte sich über den Tisch gebeugt, Ritas Kopf in seine Hände genommen und sie lange und fest geküßt, nur um seine Freundin zu ärgern, aber Ritas Herz hatte geklopft und es hatte ihr gefallen.
Manchmal waren sie am Rhein spazierengegangen und hatten sich Dinge erzählt, die niemand sonst von ihnen wußte, sie hatten auf die Schiffe geschaut und sich leicht und schnell gefühlt. Doch, es war eine Liebesgeschichte gewesen. Eine ohne Bett. Aber er hatte das nicht verstanden und ihr diesen Brief geschrieben. Zu Hause matschte Rita dem Hund sein Futter aus Fleisch, Gemüse und Haferflocken zusammen und legte den Kopf auf den Brief, der vor ihr auf dem Tisch lag. Ihr Mann kam herein und fühlte ihre Stirn. «Krank?» fragte er, und: «Fieber?»
«Nein», sagte Rita, und sie machte das Fenster weit auf und ließ ihre Liebe hinausfliegen. «Dieser Frühling ist ein Frühling der aufgerissenen Fenster», sagte sie zu ihrem Mann, aber der hatte sich eine Pfeife angezündet und saß schon wieder an seiner Arbeit.
Nach einem halben Jahr lag im Briefkasten ein Umschlag mit seiner schönen Schrift.
«Rita», schrieb er, «Du kennst mich, immer zu schnell, zu heftig, zu endgültig. Natürlich ist nichts vorbei. Schreib schnell, Dein Max.»
Noch an diesem Abend schrieb sie an Ilse, daß dies der Frühling der aufgerissenen Fenster sei, und da fliege nun einiges raus, was schon lange angestaubt auf wackligen Beinen rumgestanden hätte, «so auch unsere Freundschaft, liebe Ilse, die nie eine Freundschaft war, leb wohl, Rita». Erst zwei oder drei Jahre später traute sie sich wieder in die Kneipe, und Lisa sagte: «Du hättest ruhig früher kommen können, dein Max verkehrt hier nicht mehr.
Er hat geheiratet und ist ziemlich dick geworden, und weißt du, zwei Kinder hat er auch.» Sie tippte sich an die Stirn und zapfte Rita ein Bier. Es lief «Heartattack and vine» von Tom Waits, und Lisa erzähl^ daß der Kranke jetzt im Rollstuhl sitze und Essen auf Rädern kriege und
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