Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
Kaufleute zwischen 1856 und 1903 Ansprüche auf vierundneunzig Inseln, Klippen, Korallenriffe und Atolle. Das Außenministerium erkannte sechsundsechzig offiziell als US -Besitzungen an. Die meisten besaßen nur wenig Guano und wurden rasch aufgegeben. Neun sind bis heute unter US -amerikanischer Kontrolle geblieben.
Guano ließ das Grundmuster für den modernen Ackerbau entstehen. Seit Liebig behandeln Bauern ihr Land als ein Medium, in das sie säckeweise chemische Nährstoffe kippen. Diese werden aus fernen Regionen herbeigeschafft oder in fernen Fabriken hergestellt. Agrarwirtschaft wird zum Akt der Übertragung dieser externen Nährstoffe an die Nutzpflanzen auf den Äckern: große Mengen Stickstoff werden eingeführt, große Mengen an Mais und Kartoffeln herausgeholt. Da die Ernten in diesem System enorm sind, dienen die Feldfrüchte nicht mehr als Mittel zum lokalen Lebensunterhalt, sondern sind Produkte, die für einen internationalen Markt bestimmt sind. Um die Erträge zu steigern, werden sie in immer größeren sogenannten industriellen Monokulturen angebaut. [452]
Heute sprechen Wissenschaftler häufig von der «Grünen Revolution» nach dem Zweiten Weltkrieg als einer Epoche, in der die Menschheit sich, zumindest eine Zeit lang, aus den Grenzen befreite, die ihr durch eine in kleinem Maßstab und mit lokalen Ressourcen operierende Landwirtschaft gesetzt worden waren, indem sie sich der Kombination von ertragreichen Pflanzen, Agrarchemikalien und intensiver Bewässerung bediente. Doch der Historiker Edward D. Melillo vom Amherst College vertritt die Auffassung, das Eintreffen der Guanoschiffe in Europa und den USA habe eine frühere, ebenso tief greifende grüne Revolution ausgelöst, die erste in einer Reihe technischer Neuerungen, die das Leben überall auf dem Planeten veränderte. [453]
Vor Einführung von Kartoffel und Mais und intensiver Düngung war der europäische Lebensstandard in etwa mit dem des heutigen Kamerun oder Bangladesch zu vergleichen; er lag unter dem von Bolivien oder Simbabwe. Im Durchschnitt hatten die europäischen Kleinbauern weniger zu essen als die Jäger und Sammler in Afrika oder im Amazonasgebiet. Industrielle Monokulturen mit optimierten Pflanzen und hochintensiven Düngemitteln ermöglichten Milliarden Menschen – zuerst in Europa und dann auch in den meisten anderen Regionen der Erde –, aus der malthusischen Falle zu entweichen. [30] [454] Unglaublicherweise verdoppelten und verdreifachten sich die Lebensstandards weltweit, obwohl die Bevölkerung des Planeten von einer knappen Milliarde im Jahr 1700 auf rund sieben Milliarden heute anstieg. [455]
Im Zuge dieser Entwicklung wurde Guano fast vollständig durch Nitrate ersetzt, die aus riesigen Vorkommen in der chilenischen Wüste abgebaut wurden. Die Nitrate wurden ihrerseits durch Kunstdünger verdrängt. Den industriellen Prozess zur Herstellung dieser neuen Düngemittel hatten Anfang des 20 . Jahrhunderts die deutschen Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch erfunden und wirtschaftlich genutzt – dafür wurden sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Egal, wie die Düngemittel zusammengesetzt sind, sie haben nach wie vor entscheidende Bedeutung für die Landwirtschaft und, durch diese, für das zeitgenössische Leben. In einer hochinteressanten Studie über die Wirkung des industriell erzeugten Stickstoffs schätzt Vaclav Smil, der Geograf von der University of Manitoba, dass ohne dieses Produkt zwei von jeweils fünf Menschen auf der Erde nicht mehr am Leben wären. [456]
Ganz gleich, wie man sie betrachtet, es waren erstaunliche Leistungen. Doch wie alle menschlichen Unternehmungen hatte auch die Intensivierung der Landwirtschaft ihre Nachteile. Der Guanohandel, der die moderne Landwirtschaft auf den Weg gebracht hatte, setzte auch – im kolumbischen Austausch – eine ihrer ärgsten Plagen in Gang: durch den interkontinentalen Transport exotischer Schädlinge. Zwar wird man es nie beweisen können, aber man geht gemeinhin davon aus, dass die Guanoschiffe einen mikroskopisch kleinen Tramper mitbrachten:
Phytophthora infestans
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P. infestans
verursacht Kraut- und Knollenfäule, eine Pflanzenkrankheit, die sich in den 1840 er Jahren explosionsartig auf den europäischen Kartoffelfeldern verbreitete und den Tod von bis zu zwei Millionen Menschen verursacht hat, die Hälfte davon in Irland. Später nannte man diese Zeit die Große Hungersnot. [457]
Absolut moderner Hunger
Der Name
Phytophthora
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