Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
Frühjahr aus, ohne zu ahnen, was sie damit anrichteten. Im Juli 1845 wurde die westflandrische Stadt Kortrijk, neun Kilometer von der französischen Grenze entfernt, zum Ausgangspunkt für Europas erste weit verbreitete Knollenfäule-Epidemie. Im August trug der Wind die Sporen des Eipilzes auf Bauernhöfe in der Umgebung von Paris. Wochen später erreichten sie die Niederlande, die deutschen Staaten, Dänemark und England. Von Panik ergriffen, bestellten die Regierungen weitere Kartoffeln aus dem Ausland. [464]
Über die Kraut- und Knollenfäule wurde am 13 . September 1845 zum ersten Mal in Irland berichtet. Mitte Oktober bezeichnete der britische Premier in privater Runde die Epidemie zum ersten Mal als nationale Katastrophe. Innerhalb eines weiteren Monats ging ein Viertel bis ein Drittel der Pflanzen verloren. Nach einer Schätzung von Cormac Ó Gráda, einem Wirtschaftswissenschaftler und Historiker der Kraut- und Knollenfäule am University College in Dublin, hatten die irischen Bauern in dem Jahr rund eine halbe Million Hektar mit Kartoffeln bepflanzt. In zwei Monaten vernichtete
P. infestans
den Bestand auf 200 000 bis 300 000 Hektar in allen Teilen Irlands. Im folgenden Jahr war es noch schlimmer und im Jahr danach ebenso. [465]
Erinnern wir uns, dass fast vier von zehn Iren keine feste Nahrung außer Kartoffeln hatten und dass auch der Rest sich in erheblichem Maße von ihnen ernährte. Halten wir uns ferner vor Augen, dass Irland eine der ärmsten Nationen Europas war. Mit einem Schlag vernichtete die Knollenfäule die Hälfte der Nahrungsvorräte des Landes – und es war kein Geld vorhanden, um Getreide aus dem Ausland zu kaufen. Die Folgen waren entsetzlich; Irland verwandelte sich in eine postapokalyptische Landschaft. Völlig verarmte, zerlumpte Menschen säumten die Straßen und schliefen in behelfsmäßigen Unterkünften, die sie in den Straßengräben ausgehoben hatten. Als Nahrung dienten ihnen Hunde, Ratten und Baumrinde. Häufig – und möglicherweise zutreffend – wurde von Kannibalismus berichtet. Ganze Familien starben in ihren Häusern und wurden von verwilderten Haustieren gefressen. Die Überlebenden litten an einer Vielzahl von Infektionen wie Ruhr, Pocken, Typhus oder Masern und einer ganzen Reihe von Krankheiten, die auf den Totenscheinen als Fieber bezeichnet wurden. Bettlerhaufen – «obdachlose, halbnackte, hungernde Kreaturen», wie ein Beobachter sie beschrieb – belagerten die Häuser der Reichen und baten um Almosen. In vielen westlichen Ortschaften starben so viele, dass sie in Massengräbern verscharrt wurden.
Mit schwindenden Ressourcen wurde das Leben zu einem Kampf aller gegen alle. Hungernde Menschen schlichen sich auf die Äcker, um Rüben aus dem Boden zu stehlen. Mit Fußangeln versuchten die Bauern, sie aufzuhalten. Grundbesitzer jagten ihre Pächter scharenweise davon, rissen ihre Häuser ab und gingen dann selbst bankrott. Nachbarn kämpften um Nahrung und Unterkunft. Die Verbrechensraten schossen in die Höhe, in zwei Jahren kam es fast zu einer Verdoppelung der Morde. Manche hungernde Menschen stahlen, um Essen auf dem Tisch zu haben, andere, um im Gefängnis versorgt zu werden. In einem Fall wurden zwei Männer, die aus der Haft entlassen worden waren, am folgenden Tag wieder hineingeschickt, weil sie versucht hatten, «in das Gefängnis einzubrechen». Das einzige Gewaltverbrechen, das seltener verübt wurde, war die Vergewaltigung – den potenziellen Tätern fehlte die nötige Energie. [466]
Hunderttausende von verzweifelten Menschen flohen aus dem Land und bestiegen eines der «Sargschiffe», wie sie später genannt wurden. Ein Passagier erinnerte sich an die Körper, die dort «dicht zusammengedrängt lagen, ohne Licht, ohne Luft, sich im Schmutz wälzend und die verpestete Luft atmend, krank am Leib und mutlos im Herzen». Die Schiffe hinterließen eine lange Spur von Toten, die man ins Meer rutschen ließ. Die meisten Migranten gingen in die USA und nach Kanada. Heerscharen von Kranken und Hungernden füllten die Quarantänestation auf der Grosse Île im Sankt-Lorenz-Strom bei Quebec. Dort gibt es ein Massengrab, das Tausende von Leichen enthält. Zwar waren sie bei ihrem Tod durch einen Ozean von Irland getrennt, trotzdem waren sie genauso Opfer von
P. infestans
, als wären sie nie fortgegangen. [467]
Anfang 1847 beauftragte die
Illustrated London News
den Maler James Mahoney, die vom Hunger verwüsteten ländlichen Gebiete Irlands zu
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