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Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)

Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)

Titel: Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles C. Mann
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Einschnitt von der Breite einer Messerklinge. Am unteren Rand des Schnitts war auf ganzer Länge den Stamm hinab ein biegsamer Kunststoffstreifen angebracht, etwa sieben bis acht Zentimeter breit. Am Fuß jeder Spirale befand sich eine kleine Tonschüssel oder eine Vorrichtung, um eine aufstellen zu können.
    Bei den Bäumen handelte es sich um die Art
Hevea brasiliensis
, den Kautschukbaum. Die Dorfbewohner von Longyin Le hatten die Rinde entfernt und die Streifen als Leitschiene angebracht. Aus der Öffnung trat eine milchige, sirupartige Substanz – Milchsaft oder Latex, nach dem lateinischen Wort für Flüssigkeit –, floss an dem Kunststoffstreifen entlang und tropfte von seinem Ende in die Schüssel. Je nach Baum und Jahreszeit enthält Latex bis zu neunzig Prozent Wasser. Unter den Restbestandteilen befinden sich winzige Körnchen Naturkautschuk. Als ich zum ersten Mal davon hörte, stellte ich mir darunter eine Substanz vor, die für viel Geld in esoterischen Läden verkauft wird. Tatsächlich aber handelt es sich um ein wichtiges Naturprodukt, das in der Hightechindustrie sehr begehrt ist. Der Naturkautschuk in
H. brasiliensis
hat Longyin Le und viele seiner Nachbargemeinden aus der Armut befreit.
    Nach zehn oder fünfzehn Minuten Autofahrt stieg ich aus dem Taxi und ging zu Fuß umher. Ich erreichte einen Hang, an dem flache Terrassen angelegt worden waren, auf denen jeweils eine Reihe Kautschukbäume stand. Jenseits der Terrassen befand sich ein steiler Abhang, und von dort aus blickte ich über das Auf und Ab einer Hügellandschaft, die aussah wie ein zu Boden gefallenes Laken. Je weiter die Hügel entfernt waren, desto blasser wurden sie im dunstigen Nachmittagslicht. Jedes Lebewesen, das ich erkennen konnte, war ein Kautschukbaum.
    Der Taxifahrer begleitete mich. Er habe dieses Gebiet seit seiner Jugend nicht mehr gesehen, erzählte er. Damals seien die Hügel voller Vierbeiner und Vögel gewesen. Sie alle seien nun vom Kautschuk verdrängt worden. Es war wohl der stillste Wald, durch den ich je gegangen bin. Hin und wieder fuhr ein kurzer Windstoß durch die Bäume, dann flatterten die Blätter wie winzige Fahnen und zeigten einen Augenblick lang ihre seidige Oberseite. «Nichts davon ist geblieben», sagte der Fahrer, offensichtlich erregt. «Die Leute wollen schneiden und schneiden und pflanzen und pflanzen – zum Teufel mit ihnen.»
    Vor mehr als hundert Jahren waren einige wenige Kautschukbäume aus ihrer Heimat Brasilien nach Asien gebracht worden. Heute bedecken die Nachkommen dieser Exemplare riesige Gebiete auf den Philippinen, in Indonesien, Malaysia, Thailand und in Teilen Chinas. Auch nach Laos und Vietnam ist
H. brasiliensis
vorgedrungen. Jetzt werden südostasiatische Ökosysteme von einer Pflanze beherrscht, die es vor 1492 nur im Amazonasbecken gab. Tatsächlich nimmt der Kautschuk eine so riesige Fläche ein, dass Botaniker schon lange davor warnen, dass eine einzige Epidemie wie die Kraut- und Knollenfäule eine Umweltkatastrophe und möglicherweise auch einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft bewirken könnte.
    Leitstreifen für Latex und Sammelbecher sind typische Erkennungsmerkmale von Kautschukplantagen – hier im chinesischen Xishuangbanna, einem autonomen Gebiet im Süden, nahe der laotischen Grenze.
    In Longyin Le ging ich von Haus zu Haus und unterhielt mich mit den Bauern über Kautschuk. Bis auf einen waren sie dankbar für die Möglichkeiten, die er bot. Der Kautschuk ernährte sie, ermöglichte ihnen, die Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen, Straßen zu bauen und instandzuhalten. Wie die Kartoffel entscheidend dazu beigetragen hatte, aus der malthusischen Falle zu entkommen – wenn vielleicht auch nur eine Zeit lang –, hatte der Kautschuk die industrielle Revolution befördert, den Übergang von einer auf Handarbeit und Zugtieren basierenden Wirtschaft zu einem System, das sich auf mechanisierte Produktion gründete. Die Menschen in Longyin Le waren seine neuesten Nutznießer. Als ich kilometerweit über die dichten Baumbestände blickte, in denen sich kein Vogel hören ließ, hatte ich immer noch die dankbaren Äußerungen der Bauern im Ohr. Doch wie ein Nebel erhob sich darüber ein Chor von anderen Stimmen, die den zahllosen Männern und Frauen gehörten, deren Schicksal sich – zu ihrem Vor- oder Nachteil – mit dieser Pflanze verkettet hatte: ohnmächtigen Sklaven, visionären Ingenieuren, gierigen Kaufleuten, besessenen Wissenschaftlern,

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