Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
herstellen. «Nachdem die [Mischung] getrocknet ist, wird sie ziemlich porös, nicht weil sie Löcher oder Hohlräume bekäme, sondern weil sie leichter wird, weil sie wirkt, als wäre sie wabbelig und ziemlich schwer.» Einen Moment, möchte man sagen: wie kann etwas «leichter werden», aber «ziemlich schwer» sein? [495]
Navagero, Pietro Martire und Oviedo waren mit Recht verwirrt: Sie hatten es mit einem neuartigen Material zu tun. Die Bälle waren aus Gummi oder genauer: aus Kautschuk. Chemisch betrachtet, ist Kautschuk ein Elastomer, das heißt, es ist elastisch verformbar und mit einer charakteristischen Rückprallelastizität ausgestattet. Kein Europäer hatte dergleichen zuvor gesehen.
Für Ingenieure sind Elastomere ungeheuer nützlich. Sie verwenden Naturkautschuk und kautschukähnliche Stoffe für Produkte, die sich in allen erdenklichen Bereichen unseres Lebens finden: Klebestreifen, Isolierbänder, Regenkleidung, Gummierungen, Schuhwerk, Treibriemen, Dichtungsringe, medizinische Handschuhe und Schläuche, Ballons und Rettungsringe, Reifen für Fahrräder, Autos, Lastwagen, Flugzeuge und Tausende von anderen Produkten. Das begann nicht sofort: Eingehende Untersuchungen des Naturkautschuks fanden erst in den 1740 er Jahren statt. Die ersten einfachen Laborexperimente im Jahr 1805 lieferten wenig Hinweise darauf, dass dieses Material überhaupt nützlich sein könnte [496] – obwohl der Naturforscher John Gough den für die spätere Forschung sehr wichtigen Umstand entdeckte, dass Kautschuk sich bei Streckung erwärmt. [33] [497] Erst mit der Erfindung der Gummigaloschen in den 1820 er Jahren stieg die Nachfrage nach dem Rohstoff sprunghaft an.
Das gilt allerdings nur für die Europäer und Nordamerikaner, denn die südamerikanischen Indianer verwendeten Kautschuk schon seit Jahrhunderten. Sie zapften
Hevea brasiliensis
an, indem sie der Rinde schmale, V-förmige Schnitte zufügten; aus der Spitze des Vs tropfte der Latex dann in einen Behälter, meist einen ausgehöhlten Kürbis, der am Stamm befestigt wurde. Durch einen Prozess, der an die Zubereitung von Sahnebonbons erinnert, gewannen die Indianer den Kautschuk, indem sie den Latex über einem extrem rauchenden Palmnussfeuer langsam kochten und streckten. Wenn der Kautschuk fertig war, verarbeiteten sie ihn zu steifen Rohren, Schüsseln und anderen Geräten. Susanna Hecht, eine Geographin der University of California in Los Angeles, die viel im Amazonasgebiet gearbeitet hat, glaubt, die Indianer hätten auch ihre Kopfbedeckungen und Umhänge wasserdicht gemacht, indem sie die Stoffe mit Kautschuk imprägnierten. Ende des 18 . Jahrhunderts begannen europäische Kolonisten im Amazonasgebiet gummierte Kleidungsstücke herzustellen, unter anderem auch Stiefel, indem sie Füßen nachempfundene Gussformen in kochenden Latex tauchten. Einige Paare solcher Gummistiefel gelangten in die Vereinigten Staaten. Städte wie Boston, Philadelphia und Washington waren auf Sümpfen erbaut, mit dicken Schlammschichten bedeckt, und sie hatten keine Bürgersteige. Die Gummistiefel wurden zu einem Renner. [498]
Das Epizentrum dessen, was als «Kautschukfieber» in die Geschichte einging, war Salem in Massachusetts, nördlich von Boston. 1825 importierte ein junger Salemer Geschäftsmann fünfhundert Paar Gummischuhe aus Brasilien. Zehn Jahre später war die Zahl der importierten Schuhe auf mehr als 400 000 angewachsen, ein Paar für jeden vierzigsten US -Amerikaner. Die Einwohner winziger Dörfer an der Mündung des Amazonas formten Tausende von Schuhen nach den Anweisungen Bostoner Kaufleute. Mit Kautschuk imprägnierte Kleidungsstücke waren modern, technisch auf dem neusten Stand, modisch ansprechend – ein ideales städtisches Accessoire. Die Leute stürmten die Geschäfte. [499]
Die Enttäuschung war vorprogrammiert. Die Vorstellung von wasserdichten Gummistiefeln und -kleidern war aufregender als die Wirklichkeit. Der Kautschuk eignete sich nicht besonders. Bei Kälte wurden die Schuhe brüchig, bei Hitze schmolzen sie. Stiefel, die am Ende des Winters in Schränken verstaut worden waren, hatten sich im Herbst in schwarze Pfützen verwandelt. Dazu stanken diese Reste so entsetzlich, dass die Besitzer ihr Schuhwerk im Garten vergruben. Daniel Webster, seines Zeichens Senator und Außenminister, erzählte gerne, wie er Gummiumhang und Gummihut geschenkt bekam. Er trug sie an einem kalten Abend. Als er sein Ziel erreicht hatte, war der Umhang so steif
Weitere Kostenlose Bücher