Kolyma
Lautsprechers sprühte Funken, dann gab er knisternd den Geist auf. Die anderen vier Lautsprecher in der Zone funktionierten noch, aber sie standen in einiger Entfernung. Die Stimme des Kommandanten war jetzt nur noch ein Hintergrundgeräusch und kaum zu verstehen.
Mit gezückter Pistole befahl der Wärter: »Zurück in eure Baracke, dann stirbt auch keiner mehr!«
Er hatte die Wirkung seiner Drohung falsch eingeschätzt.
Einer der Gefangenen hob die Leitung hoch und stürzte vor. Er wickelte sie dem Wachmann um den Hals und erdrosselte ihn damit. Während die Häftlinge einen Kreis um die Kämpfenden bildeten, kamen die anderen Wärter herbeigerannt, um einzuschreiten. Ein Sträfling griff sich die Pistole und feuerte. Verwundet ging ein Wärter zu Boden. Die anderen zogen daraufhin ihre Waffen und schossen wild in die Menge.
Die Gefangenen stoben auseinander. Sofort hatten sie die Lage erkannt. Egal, was für Reden in Moskau geschwungen wurden - wenn die Wachen hier wieder die Oberhand gewannen, standen ihnen grausame Sanktionen bevor. In diesem Moment eröffneten beide Wachtürme das Feuer.
* * *
Der Kommandant sprach derweil immer weiter, gestand eine blutige Tat nach der anderen und schien das Gewehrfeuer gar nicht zu hören. Sein Verstand hatte ausgesetzt. Unter Stalin hatte man sein Naturell gewaltsam verbogen, und nun wurde er in genau die entgegengesetzte Richtung zurückgebogen. Dem hatte er nichts mehr entgegenzusetzen, er wusste nicht mehr, wer er war, war weder gut noch schlecht, sondern einfach nur schwach.
Leo ließ den Kommandanten weitersprechen und öffnete einen Fensterladen. Vorsichtig spähte er hinaus. Aufrührerische Sträflinge rannten hin und her, im Schnee lagen Leichen. Leo überlegte, wie stark die beiden Seiten waren. Er schätzte, dass auf etwa vierzig Gefangene ein Wärter kam. Das war nicht wenig und erklärte auch teilweise, warum der Unterhalt der Lager so teuer war. Die Zwangsarbeit brachte nicht genügend ein, um die Kosten für die Verpflegung und Unterbringung der Sträflinge sowie den Transport und ihre Knechtung zu decken. Ein besonderer Kostenfaktor waren die Wärter, die für ihre Arbeit in dieser Einöde Zuschläge erhielten. Deshalb töteten sie auch jetzt so bereitwillig und klammerten sich rücksichtslos an ihre Machtstellung. Denn sie hatten kein Leben, in das sie hätten zurückkehren können, keine Familien oder Nachbarn, die etwas mit ihnen zu tun haben wollten. Keine Fabrikbelegschaft hätte sie bei sich aufgenommen. Ihr Wohlergehen hing ganz und gar von den Gefangenen ab. Beide Seiten würden also mit dem gleichen Mut der Verzweiflung kämpfen.
Aus den Wachtürmen blitzte Mündungsfeuer auf. Die Fensterscheibe zerbarst. Leo duckte sich weg, während um ihn herum Glasscherben niederprasselten und Kugeln in die Dielen einschlugen. Hinter den dicken Baumstämmen war Leo in Sicherheit, also richtete er sich vorsichtig auf und versuchte den Fensterladen zu schließen. Doch in einem Hagel von Splittern barst dessen Holz. Jetzt war der Raum ungeschützt. Die Sprechanlage auf dem Schreibtisch wurde von den Kugeln hin und her geschleudert, schließlich flog sie in hohem Bogen zu Boden. Sinjawski schrak zurück und kauerte sich hin.
Gegen den Radau brüllte Leo ihm zu: »Haben Sie ein Gewehr?«
Sinjawski schaute gehetzt zur Seite. Leo folgte seinem Blick und entdeckte in einer Ecke eine Holztruhe. Er stand auf und rannte darauf zu, musste aber feststellen, dass der Kommandant sich ihm in den Weg stellte und mit abwehrenden Händen rief: »Nein!«
Leo stieß den Mann zur Seite, griff nach der stählernen Schreibtischlampe und schlug mit dem schweren Fuß auf das Vorhängeschloss ein. Beim zweiten Schlag gab es nach, und er zog es heraus. Wieder sprang der Kommandant vor und warf sich über die Kiste. »Ich flehe Sie an ...«
Leo riss ihn weg und öffnete den Deckel.
In der Kiste schien sich nur Krimskrams zu befinden. Leo entdeckte gerahmte Fotografien, die einen stolzen Kommandanten neben einem Kanal zeigten, im Hintergrund ausgemergelte Häftlinge. Leo vermutete, dass dies die Fotos waren, die ursprünglich an der Wand des Büros gehangen hatten. Er warf sie beiseite, dann grub er sich durch Akten, Urkunden, Auszeichnungen und Glückwunschbriefe zur Erfüllung der Norm - die Überbleibsel seiner großen Karriere. Ganz unten lag ein Jagdgewehr, mit zahlreichen Kerben im Kolben. Dreiundzwanzig Abschüsse. Leo ahnte, dass das keine Wölfe oder Bären gewesen
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