Kolyma
ließ den Draht hinab, bis der Spiegel sich vor Marina Njurinas Schlafzimmerfenster befand. Soja legte sich neben ihn und spähte ebenfalls hinunter.
Die Vorhänge waren zwar zugezogen, aber es gab einen kleinen Spalt. In dem dunklen Zimmer konnte Malysch eine Gestalt im Bett erkennen. Er zog den Draht hoch, nahm den Spiegel ab, rollte den Draht auf und verstaute alles wieder in seiner Hosentasche. »Wir gehen von hinten rein.«
Soja nickte.
Malysch zögerte einen Moment, dann murmelte er: »Du kannst auch hierbleiben.«
»Ganz allein?«
»Ich verlasse mich darauf, dass du nicht abhaust.«
»Malysch, ich hasse Tschekisten mindestens so sehr wie Frajera. Ich bleibe bei dir.«
Sie zogen sich die Schuhe aus und stellten sie ordentlich nebeneinander an die Dachkante. Dann kraxelten sie, mit dem Regenrohr als Kletterstange, die Ziegelwand hinunter. Es war ein kurzer Abstieg, kaum ein Meter. Malysch erreichte den Fenstersims so leichtfüßig, als hätte er eine Leiter benutzt. Soja folgte ihm zögernd und versuchte, nicht hinabzuschauen. Sie waren im sechsten Stock, jeder Absturz wäre tödlich gewesen. Malysch ließ ein Messer aufschnappen und hob den Riegel hoch, dann öffnete er das Fenster und hievte sich in die Wohnung. Da er befürchtete, Soja könnte Lärm machen, wandte er sich um und streckte ihr eine Hand hin. Sie wehrte ab und ließ sich vorsichtig auf den Dielenboden gleiten.
Sie waren ins Wohnzimmer eingedrungen, einen großen Raum. »Lebt sie allein?«, flüsterte Soja Malysch ins Ohr.
Er nickte knapp, weil er jetzt keine Fragen gebrauchen konnte, egal welche. Er wollte absolute Stille.
Die Größe der Wohnung war beeindruckend. Soja brauchte nur die Quadratmeter an leer stehender Bodenfläche zusammenzurechnen, um sich ausmalen zu können, wie viele Verbrechen diese Frau auf dem Kerbholz haben musste.
Die Tür zum Schlafzimmer war zu. Malysch streckte den Arm aus und griff nach der Klinke. Bevor er die Tür aufmachte, gab er Soja Zeichen, außer Sichtweite im Wohnzimmer zurückzubleiben.
Lieber wäre sie ihm gefolgt, aber sie merkte, dass Malysch sie nicht weiter mitkommen lassen würde. Also nickte sie und zog sich zurück, während Malysch die Tür öffnete.
* * *
Malysch betrat das dunkle Zimmer. Marina Njurina lag auf der Seite im Bett. Malysch zog sein Messer und schlich sich an. Dann hielt er inne, so als balanciere er am Rand einer Klippe. Die Frau da im Bett war viel älter als die auf dem Bild. Sie hatte graue Haare und ein faltiges Gesicht und war mindestens sechzig Jahre alt. Er zögerte. War er hier vielleicht falsch? Nein, die Adresse stimmte. Vielleicht war das Foto schon vor vielen Jahren aufgenommen worden. Er beugte sich weiter vor und holte zum Vergleich das zusammengefaltete Foto hervor. Das Gesicht der Alten lag im Schatten - hundertprozentig sicher war er sich nicht. Im Schlaf sah ja jeder aus wie ein Unschuldslamm.
Plötzlich machte die Njurina die Augen auf, ihr Arm schnellte unter der Decke hervor. Sie hatte eine Waffe in der Hand, mit der sie Malysch genau zwischen die Augen zielte. Als sie sich aus dem Bett schwang, kam ein geblümtes Nachthemd zum Vorschein. »Zurück!«
Malysch gehorchte und hob die Arme. In einer Hand hatte er sein Messer, in der anderen das Foto. Er schätzte ab, ob er schnell genug sein würde, sie zu entwaffnen, doch sie erriet seine Gedanken, hob die Pistole und feuerte auf das Messer in seiner Hand, dabei schoss sie ihm eine Fingerkuppe weg. Er schrie auf, das Messer fiel klackernd zu Boden. Malysch umklammerte seinen blutenden Finger.
»Der Schuss wird die Wachen alarmieren«, erklärte die Njurina. »Töten werde ich dich nicht. Stattdessen werde ich sie dich foltern lassen. Vielleicht mache ich ja sogar mit. Ich werde herausfinden, wo deine Spießgesellen stecken, und dann erledigen wir die ebenfalls. Habt ihr wirklich geglaubt, wir würden einfach nur auf der faulen Haut liegen und darauf warten, dass ihr Drecksbande uns einen nach dem anderen um die Ecke bringt?«
Malysch machte einen Schritt zurück. Die Njurina erhob sich.
»Wenn du glaubst, dass du wegrennen kannst und dein Tod mit einer Kugel im Rücken leichter wird, dann lass dich eines Besseren belehren. Ich werde dir den Fuß wegschießen. Vielleicht sollte ich das sogar jetzt sofort machen, nur um sicherzugehen.«
* * *
Sojas Herz raste so sehr, dass sie kaum Luft bekam. Jetzt hieß es schnell handeln. Vor allem musste sie schleunigst aus der Zimmermitte weg und nicht
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