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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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vorbeigedrückt. Jetzt waren sie beide verschwitzt und genossen es, hier oben auf dem Dach zu sitzen, wo ein kühler Abendhauch wehte. Soja spürte frische Energie in sich. Zum Teil lag das an der körperlichen Betätigung nach den vielen eintönigen Tagen und Nächten, vor allem aber daran, dass sie mit Malysch zusammen war. Sie fühlte sich wieder in die Kindheit zurückversetzt, die man ihr gestohlen hatte, an die Abenteuer und Streiche mit Freunden.
    Soja warf einen verstohlenen Blick auf das Foto, das Malysch in Händen hielt. »Wie heißt sie?«
    »Marina Njurina.«
    Soja nahm sich das Foto. Marina Njurina war eine streng und pedantisch aussehende Frau Mitte dreißig. Sie trug eine Uniform. Soja reichte Malysch das Bild zurück. »Wirst du sie töten?«
    Malysch antwortete mit einem spärlichen Nicken, so als hätte ihn jemand um eine Zigarette gebeten. Soja wusste nicht recht, ob sie ihm glauben sollte. Doch sie hatte gesehen, wie er den Gangster angegriffen hatte, der sie hatte vergewaltigen wollen. Mit dem Messer konnte er umgehen. Außerdem wirkte er mit seiner verschlossenen, mundfaulen Art beileibe nicht wie einer, der leere Drohungen machte. »Warum?«
    »Sie ist eine Tschekistin.«
    »Was hat sie angestellt?«
    Malysch sah sie verständnislos an, er verstand die Frage nicht. Soja wollte es genauer wissen. »Hat sie Leute verhaftet? Hat sie sie verhört?«
    »Keine Ahnung.«
    »Du willst sie umbringen und weißt noch nicht mal, was sie gemacht hat?«
    »Habe ich dir doch gesagt. Sie ist eine Tschekistin.«
    Soja beschlichen Zweifel, ob er überhaupt über die Geheimpolizei Bescheid wusste. Behutsam fragte sie ihn: »Du weißt gar nicht so viel über diese Leute, oder? Über die Geheimpolizei, meine ich.«
    »Ich weiß, was sie gemacht haben.«
    »Und was?«
    Malysch dachte einen Moment lang nach, dann antwortete er: »Die haben Leute verhaftet.«
    »Solltest du nicht ein bisschen mehr über jemanden wissen, bevor du ihn umbringst?«
    »Frajera hat es mir befohlen. Das reicht mir als Grund.«
    »Das ist genau das, was die Tschekisten auch über die Dinge sagen würden, die sie getan haben. Dass sie nur Befehle befolgt haben.«
    Malysch wurde langsam wütend. »Frajera hat gesagt, du darfst mir helfen. Also darfst du mir helfen. Sie hat nichts davon gesagt, dass du einen Haufen blöder Fragen stellen sollst. Ich kann dich auch wieder zurück in deine Zelle bringen, wenn dir das lieber ist.«
    »Werd doch nicht gleich wütend. Ich sage doch bloß, dass ich nachgefragt hätte. Warum bringen wir die Frau um?«
    Malysch faltete das Foto zusammen und steckte es zurück in seine Tasche. Soja hatte es zu weit getrieben. Vor lauter Aufregung und ohne ihr loses Maul im Zaum zu halten, hatte sie den Bogen überspannt. Also schwieg sie und hoffte nur, dass sie nicht alles vermasselt hatte. Eigentlich hatte sie mit einer gereizten Antwort gerechnet und war deshalb umso erstaunter, als Malysch sich jetzt ganz leise und beinahe schüchtern an sie wandte.
    »Was sie getan hat, stand auf einer Liste. Ich wollte aber keinen fragen, ob er sie mir vorliest.«
    »Du kannst nicht lesen?«
    Er schüttelte den Kopf und beobachtete dabei genau, wie sie reagierte.
    Weil sie spürte, wie unsicher er war, versuchte sie, ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen. »Bist du nie zur Schule gegangen?«
    »Nein.«
    »Was war mit deinen Eltern?«
    »Die sind gestorben. Ich bin mehr oder weniger auf Bahnhöfen groß geworden. Bis dann Frajera auftauchte.«
    Irgendwann fragte Malysch: »Findest du es schlimm, dass ich nicht lesen kann?«
    »Du hattest eben nie die Gelegenheit, es zu lernen.«
    »Stolz bin ich nicht gerade drauf.«
    »Weiß ich.«
    »Ich würde auch gerne lesen und schreiben können. Eines Tages werde ich es lernen.«
    »Ich wette, das lernst du im Handumdrehen.«
    Noch etwa eine Stunde saßen sie so da und sahen zu, wie die Fenster in den umliegenden Häusern nach und nach dunkel wurden, weil die Bewohner ins Bett gingen. Endlich stand Malysch auf und reckte sich, wie ein nachtaktives Tier, das erst wach wurde, wenn alle anderen schliefen. Aus der Tasche seiner ausgebeulten Hose beförderte er eine Rolle festen Drahtes zutage und rollte ihn auf. Am Ende des Drahtes befestigte er eine stumpfe Spiegelscherbe, die er so lange mit dem Draht umwickelte, bis sie hielt. Vorsichtig bog er den Spiegel, bis er sich in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel neigte. Dann lief er zur Dachkante des Gebäudes, legte sich auf den Bauch und

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