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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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stocksteif dastehen wie eine dumme Göre. Die Alte konnte sie unmöglich gesehen haben. Soja sah sich um, aber der einzige Platz, wo sie sich verstecken konnte, befand sich unter dem Schreibtisch. Rückwärts kam der verwundete Malysch aus dem Schlafzimmer auf sie zu, von seiner Hand tropfte Blut. Er vermied es, sich zu ihr umzudrehen, damit er sie nicht verriet. Sie war seine einzige Chance. Die Frau war schon fast an der Tür. Soja flitzte unter den Schreibtisch.
    Aus ihrem Versteck heraus erhaschte sie zum ersten Mal einen Blick auf die Frau. Sie war viel älter als auf dem Foto. Trotzdem war sie es - dasselbe strenge Gesicht, dieselbe steife Haltung. Sie grinste hämisch, offenbar genoss sie die Macht, die die Waffe ihr verlieh. Sie folgte Malysch auf dem Fuße. Wenn Soja nichts unternahm, würden die Wachen kommen und Malysch verhaften. Sie selbst wäre dann gerettet und würde mit Elena und Raisa wiedervereint sein - und mit Leo. Wenn sie nichts unternahm, wäre ihr Leben genau wie zuvor.
    Soja sprang mit einem Schrei in Richtung der Waffe. Marina Njurina, die damit nicht gerechnet hatte, schwenkte die Pistole in ihre Richtung. Soja umklammerte die Hand der Frau und biss ihr, so fest sie konnte, ins Handgelenk. Direkt neben ihrem Ohr ging ein ohrenbetäubender Schuss los. Eine Kugel schlug in die Wand ein, Soja konnte die Erschütterung des Rückstoßes in ihrem Gebiss spüren. Mit der freien Hand schlug die Frau auf sie ein, immer wieder, bis Soja zu Boden ging.
    Hilflos schaute Soja hinauf, wie die Alte ihre Waffe auf sie richtete. Doch noch bevor sie abdrücken konnte, machte Malysch einen Satz auf ihren Rücken und drückte ihr die Finger in die Augen. Sie schrie auf, ließ die Waffe fallen und verkrallte sich in seine Hände, worauf er nur umso fester drückte. Dabei warf er Soja einen hastigen Blick zu.
    »Die Tür!«
    Während die kreischende Frau sich um die eigene Achse drehte, rannte Soja zur Eingangstür und verriegelte sie. Die Wachen kamen die Treppe hinaufgetrampelt. Als Soja sich umblickte, sah sie, dass die Njurina mittlerweile in die Knie gegangen war, Malysch hockte immer noch auf ihrem Rücken. Als er seine Finger wegnahm, hinterließ er zwei blutige Höhlen, wo zuvor ihre Augen gewesen waren. Dann hob er die Waffe auf und winkte Soja, ihm zu folgen. Sie rannten zum Fenster.
    Hinter ihnen traten die Wachen gegen die Tür. Malysch feuerte durch das Holz, um sie aufzuhalten. Als die Patronenkammer leer war, ließ er die Waffe fallen und folgte Soja hinaus auf den Fenstersims. Die Antwort der Wachen erfolgte in Form breit gestreuter Maschinengewehrsalven, überall im Wohnzimmer schlugen Kugeln ein. Doch die beiden fingen schon an, die Außenwand hochzuklettern. Soja erreichte das Dach als Erste und zog sich hoch. Sie hörte, wie die Tür zum Wohnzimmer eingeschlagen wurde und die Wachen aufschrien angesichts des blutigen Anblicks, der sich ihnen bot.
    Sie beugte sich nach unten und half Malysch hoch. Als sie beide auf dem Dach waren, schnappten sie sich ihre Schuhe und wollten loslaufen. Doch da hielt Malysch sie am Handgelenk fest.
    »Warte!«
    Als er am Fenster unter ihnen die Wachen hörte, zog er eine Schieferplatte aus dem Dach und wartete. Einer der Männer umklammerte den Dachsims. Als er sich gerade hochzog, schlug Malysch ihm die Platte ins Gesicht. Der Wachmann ließ los und stürzte in die Seitenstraße unter ihnen.
    »Lauf!«, rief Malysch.
    Sie hetzten über das Dach und sprangen über die Lücke bis zum Nachbargebäude. Als sie hinunterspähten, sahen sie, wie in der Straße unter ihnen die Beamten ausschwärmten.
    »Es war eine Falle«, erklärte Malysch. »Sie haben die Wohnung überwacht.«
    Sie hatten damit gerechnet, dass die Njurina ein Ziel sein würde.
    Da ihre eigentlich vorgesehene Fluchtroute versperrt war, mussten sie nun in das Wohnhaus unter ihnen eindringen und in ein Schlafzimmer klettern.
    »Feuer!«, schrie Malysch. In den überfüllten Gebäuden mit ihrem uralten Fachwerk und der fehlerhaften Elektrik war die Angst vor Feuer allgegenwärtig. Malysch nahm Sojas Hand und rannte hinaus auf den Flur. Beide schrien sie: »Feuer!«
    Selbst ohne Rauch war der Flur in Sekunden voller Menschen. Rasch breitete sich die Panik von ganz allein über das übrige Gebäude aus. Auf der Treppe ließen Soja und Malysch sich auf die Hände und Knie fallen und krochen zwischen den Beinen der Leute hindurch.
    Draußen auf der Straße strömten die Einwohner aus dem Gebäude und

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