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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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unterirdischer Sonnenaufgang tauchte ein weiches gelbes Licht auf, eine flackernde Gasflamme. Es kam aus einer altmodischen Laterne, die von einem einzelnen Mann hochgehalten wurde. Er war geradezu grotesk mit Muskeln bepackt. Tätowierungen prangten auf seinen Händen und seinem Hals.
    »Stehen bleiben!«
    Der Gangster durchsuchte Leo und Lasar. Danach machte er die Tür zu, die hinauf in die Kanalisation führte, und schloss sie ab. Er drehte sich um und deutete in die Richtung, in der es weiterging. Dann machten sie sich auf den Weg, Leo als Erster, danach Lasar und am Ende ihr Begleiter.
    »Diese U-Bahnlinie ist auf keinem Plan verzeichnet«, erklärte der Mann unterwegs. »Nachdem sie fertiggestellt war, hat man alle Arbeiter exekutiert, damit ihre Existenz ein Geheimnis blieb. Sie heißt Speztunnel und verläuft vom Kreml bis nach Ramenkoje, einer unterirdischen Stadt fünfzig Kilometer weit weg. Wenn der Westen uns einmal angreifen sollte, werden unsere Führer sich hier hinunterbegeben und, während Moskau brennt, auf Seidenkissen sitzen.«
    Nachdem sie eine Weile marschiert waren, blieb der Führer stehen. »Hier ist es.«
    In der Mauer befand sich wieder eine Stahltür. Leo öffnete sie und leuchtete mit der Taschenlampe in das Betontreppenhaus hinein, das gottlob nach oben führte. Der Gangster schloss hinter ihnen die Tür. Sekunden später war ein zischendes Geräusch zu hören. Er hatte das Schloss mit Säure unbrauchbar gemacht. Niemand konnte ihnen mehr folgen.
    Nassgeschwitzt erreichten sie das obere Ende der Treppe, stellten fest, dass die Tür unverschlossen war, und fanden sich in der Taganskaja-Metrostation wieder. Leo verließ den Bahnhof, trat hinaus auf den Taganskaja-Platz und suchte außer sich nach irgendeinem Hinweis, was er als Nächstes tun sollte. Lasar hob den Arm und deutete in Richtung des Flusses, der etwa zweihundert Meter entfernt lag. Mitten auf der Bolschoi-Krasnocbolomski-Brücke stand eine Frau.
    Leo rannte auf sie zu, Lasar blieb an seiner Seite. Als sie das Flussufer erreichten, wo keine Gebäude mehr standen, blies der Wind doppelt so stark. Die Brücke war ein nackter Betonbogen, unter dem die von den nächtlichen Regenfällen aufgewühlte Moskwa rauschte. Die Frau blieb auf der Brücke stehen und wartete auf sie, Regen tropfte von ihrer Jacke. Als Leo näher kam, erkannte er diese Jacke. Es war seine.
    Raisa nahm die Kapuze ab.
    Leo rannte weiter, bis er bei ihr war, und nahm ihre Hände. Er war hin- und hergerissen zwischen Sorge und Erleichterung. Raisa riss sich von ihm los. »Warum hast du mir die Sache mit Soja nicht erzählt? Sie richtet ein Messer auf dich, und du sagst mir, es sei alles in Ordnung? Bei so einer Sache lügst du mich an? Was hatten wir uns versprochen? Keine Lügen mehr! Keine Geheimnisse mehr! Wir hatten es einander versprochen, Leo!«
    »Raisa, ich habe doch nur die Panik gekriegt. Ich wollte die Sache erst ins Lot bringen und es dir dann erzählen. Als du aus dem Krankenhaus gekommen bist, war ich doch schon auf dem Sprung nach Kolyma. Und du warst noch so schwach.«
    »Nicht ich war schwach, Leo, sondern du! Hier geht es nicht darum, wer der Held ist. Es geht darum, was das Beste für Soja und Elena ist. Ich habe Frajera getroffen. Auf keinen Fall wird sie dir Soja wiedergeben. Nie im Leben!«
    An der Südseite der Brücke tauchten Scheinwerfer auf, ihre Strahlen verschwammen im Regen. Der Wagen raste auf sie zu, und Leo hob die Hand vor die Augen, um nicht von dem gleißenden Licht geblendet zu werden. Das Fahrzeug bremste, die Türen gingen auf. Der Fahrer gehörte zu den wory. Ohne sich um den Regen zu kümmern, stieg Frajera auf der Beifahrerseite aus. Sie warf Leo einen kurzen Blick zu, dann konzentrierte sie sich ausschließlich auf Lasar, ihren Ehemann.
    Unsicher trat Lasar vor sie hin. Trotz Leos Warnungen war er eindeutig schockiert über ihre Verwandlung. Jetzt standen sie sich gegenüber. Frajera musterte ihn und betastete seine zerschundene Gesichtshälfte, strich mit dem Finger an seinem Unterkiefer entlang. Er zuckte bei der Berührung zwar zusammen, schrak aber nicht zurück.
    »Du hast gelitten«, sagte sie.
    Leo beobachtete, wie sich in Lasars Mund die Worte formten: »Wir haben ... einen Sohn?«
    »Unser Sohn ist tot. Genau wie deine Frau.«
    Dann fiel ein Schuss, etwas blitzte auf. Lasar fiel auf die Knie und hielt sich den Bauch.
    Leo sprang vor und fing den umkippenden Lasar auf. Sein Mund war voller Blut. Fassungslos über

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