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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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weiterzusuchen, drehte sich um die eigene Achse, aber es hatte keinen Zweck. Er konnte einfach nichts erkennen. In größter Atemnot zwang er sich wieder an die Oberfläche und holte japsend Luft. Als er sich umblickte, lag die Brücke schon ein gutes Stück hinter ihm.
    Leo atmete tief ein und wollte wieder hinabtauchen.
    »Soja!«, hörte er Raisa rufen.
    Es war ein hoffnungsloser Schrei.

Fünf Monate danach
    Moskau

    20. Oktober

    Filipp brach das Brot und achtete genau darauf, wie der noch warme Teig auseinanderriss, wie er sich kurz dehnte und dann in ungleichmäßige Streifen auflöste. Er klaubte einen Brocken heraus, legte ihn sich auf die Zunge und kaute langsam. Der Laib war perfekt gelungen, und das wiederum bedeutete, dass die ganze Charge perfekt gelungen war. Am liebsten hätte er sich daran sattgefressen und vorher noch dick Butter daraufgestrichen, die weich werden und schmelzen würde. Doch er konnte noch nicht einmal diesen kleinen Krümel hinunterschlucken. Er stellte sich über den Eimer und spuckte den klebrigen Teigball wieder aus. Eine solche Verschwendung empörte ihn selbst, aber ihm blieb keine Wahl. Denn der siebenundvierzigjährige Filipp war zwar Bäcker, noch dazu einer der besten in der ganzen Stadt, konnte aber selbst nur Flüssiges zu sich nehmen. Seit zehn Jahren plagten ihn jetzt schon hartnäckige und nicht zu behandelnde Magengeschwüre. Sein Magen war übersät mit säurehaltigen Kratern. Es waren die verborgenen Narben von Stalins Herrschaft, Zeugnisse all jener Nächte, in denen er wach gelegen und sich gesorgt hatte, ob er etwa mit den Männern und Frauen, die für ihn arbeiteten, zu streng umgegangen war. Er war Perfektionist, und wenn jemand Fehler machte, verlor er die Beherrschung. Vielleicht hatten ja verärgerte Arbeiter eine Anzeige über ihn verfasst und ihm bourgeoise, elitäre Tendenzen angelastet. Selbst jetzt noch fing bei der Erinnerung sein Magen zu brennen an. Er eilte zu seinem Tisch und rührte eine Kreidelösung zusammen. Hastig trank er die weiße, faulig schmeckende Flüssigkeit und ermahnte sich, dass diese Sorgen doch der Vergangenheit angehörten. Mitternächtliche Verhaftungen gab es nicht mehr. Seine Familie war in Sicherheit, und denunziert hatte er auch niemanden. Sein Gewissen war rein. Der Preis dafür war seine Magenschleimhaut gewesen. Und alles in allem war dieser Preis, selbst für einen Bäcker und Leckermaul, nicht einmal zu hoch.
    Das Kreidewasser beruhigte seinen Magen, und er schalt sich, dass er noch immer an die Vergangenheit dachte. Dabei lag eine goldene Zukunft vor ihm. Der Staat fing an, Begabungen zu fördern. Die Bäckerei expandierte und würde demnächst das gesamte Gebäude in Beschlag nehmen. Bisher hatte er nur zwei Etagen zur Verfügung gehabt, die oberste hatte man einer Knopffabrik zugewiesen, eine Deckadresse für irgendeine geheime Regierungsbehörde. Dass man die ausgerechnet über einer Bäckerei angesiedelt hatte, hatte er nie kapiert. Die Räume waren voller Mehlstaub und überhitzt von den Öfen. Nichts wollte er lieber, als dass die da oben verschwanden, und nicht nur, weil er Platz brauchte. Der Anblick der Leute, die dort arbeiteten, hatte ihm nie gefallen. Ihre Uniformen und ihre Reserviertheit waren ihm immer auf den Magen geschlagen.
    Er trat hinaus ins Treppenhaus und spähte hinauf ins oberste Stockwerk. Die ehemaligen Bewohner hatten zwei Tage gebraucht, um ihre Aktenschränke und Büromöbel auszuräumen. Als Filipp auf dem Treppenabsatz ankam, blieb er vor der Tür stehen und registrierte die Batterie schwerer Schlösser. Er drückte auf die Klinke. Die Tür ließ sich öffnen. Filipp schob sie weiter auf und musterte den düsteren Ort. Die Zimmer waren leer. Ermutigt betrat er sein neues Reich. Als er nach dem Lichtschalter tastete, sah er einen an der gegenüberliegenden Wand zusammengesunkenen Mann.
    Leo setzte sich auf und blinzelte die Glühbirne an der Decke an. Erst langsam nahm er den Bäcker wahr, einen spindeldürren Mann. Leos Kehle war trocken. Hustend stand er auf, strich sich die Kleider glatt und warf einen Blick auf die ausgeweideten Büros des Morddezernats. Die geheimen Akten, Belege all der Fälle, die Timur und er gelöst hatten, waren weggeschafft worden. Sie sollten verbrannt werden, jede Spur der Arbeit, die er in den letzten drei Jahren geleistet hatte, vernichtet. Der Bäcker, dessen Namen er nicht kannte, stand täppisch da - auf seiner Miene stand die Verlegenheit eines

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