Kolyma
mitleidigen Menschen angesichts des Unglücks eines Mitbürgers.
»Drei Jahre sind wir uns nun auf der Treppe begegnet«, sagte Leo, »und ich habe Sie nie nach Ihrem Namen gefragt. Ich wollte Sie nicht...«
»Beunruhigen?«
»Hätte es Sie denn beunruhigt?«
»Ehrlich gestanden, ja.«
»Ich heiße Leo.«
Der Bäcker streckte ihm die Hand hin. Leo schüttelte sie.
»Ich heiße Filipp. Drei Jahre, und ich habe Ihnen noch nie einen Laib Brot angeboten.«
Leo verließ zum letzten Mal das Morddezernat, warf noch einen Blick zurück und schloss dann die Tür. Ein unangenehmes Schwindelgefühl befiel ihn. Er folgte Filipp die Treppe hinunter und erhielt einen Laib Brot, er war noch warm und hatte eine goldene Kruste. Er brach ein Stück ab und biss hinein. Gewissenhaft studierte Filipp seine Reaktion. Als Leo klar wurde, dass seine Meinung gefragt war, schluckte er den Bissen herunter und sagte: »Das ist das beste Brot, das ich je gegessen habe.«
Und das stimmte sogar.
Filipp lächelte. »Was haben Sie hier oben gemacht? Wozu die ganze Geheimniskrämerei?«
Bevor Leo antworten konnte, zog der andere die Frage zurück.
»Vergessen Sie es. Ich sollte mich um meinen eigenen Kram kümmern.«
Doch Leo achtete nicht darauf. »Ich war Leiter einer Spezialeinheit der Miliz, einem Morddezernat.«
Filipp schwieg. Er verstand das nicht. Deshalb fügte Leo hinzu: »Wir haben Mordfälle untersucht.«
»Gab es da viel zu tun?«
Leo nickte knapp. »Mehr, als Sie vielleicht glauben.«
Neben dem Brot, das er bereits angeknabbert hatte, bekam Leo noch eins für zu Hause geschenkt. Dann wandte er sich zum Gehen.
Filipp, der zum Abschied noch etwas Freundliches sagen wollte, rief ihm hinterher: »Im Sommer wird es hier ziemlich heiß. Sie sind doch bestimmt froh, dass Sie in ein neues Büro umziehen.«
Leo blickte zu Boden und studierte die Muster der Fußabdrücke im Mehl. »Das Dezernat zieht nicht um. Es wird dichtgemacht. «
»Und was wird aus Ihnen?«
Leo sah wieder auf. »Ich soll zum KGB.«
Am selben Tag
Das Serbski-Institut war kein sehr großes Gebäude und sah mit den runden Balkonen vor den Fenstern der obersten Etage eher wie ein nettes Wohngebäude aus als wie ein Krankenhaus. Wie jedes Mal blieb Raisa fünfzig Meter davor stehen und fragte sich, ob sie auch das Richtige tat. Sie schaute hinunter auf Elena, die neben ihr stand und ihre Hand hielt. Ihre Haut war unnatürlich blass, so als welke sie dahin. Sie hatte Gewicht verloren und war so oft krank, dass Kranksein schon zu ihrem natürlichen Zustand geworden war. Raisa bemerkte, dass Elenas Schal sich gelockert hatte, kauerte sich vor sie hin und zupfte umständlich an ihr herum.
»Wir können auch nach Hause gehen. Wir können jederzeit wieder nach Hause gehen.«
Elena sagte nichts. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, als sei sie kein lebendiges Mädchen mehr, sondern nur noch eine Nachbildung aus Seidenpapier und grünen Knopfaugen, die keine eigene Kraft besaß. Sie folgte einfach gehorsam, wohin man sie auch führte. Oder war es eigentlich umgekehrt? War in Wahrheit nicht vielleicht Raisa selbst die Nachbildung, die mit ihrem ganzen Gewese und Getue um Elena nur imitierte, was eine echte Mutter tun würde?
Raisa küsste Elena auf die Wange und spürte angesichts der fehlenden Reaktion, wie sich ihr der Magen zusammenkrampfte. Elenas Teilnahmslosigkeit ging ihr sehr zu Herzen. Begonnen hatte dieser Zustand, als sie sich vor sie hingekniet und ihr mit Tränen in den Augen ins Ohr geflüstert hatte:
Soja ist tot.
Raisa hatte damit gerechnet, dass Elena ihren Kummer herausschreien würde, aber Elena hatte überhaupt nicht reagiert. Und jetzt, fünf Monate später, reagierte sie immer noch nicht. Raisa stand auf, sah nach dem Verkehr und überquerte die Straße, dann ging sie auf den Haupteingang zu. Liebe allein würde sie nicht retten. Liebe allein reichte einfach nicht.
Im Inneren des Gebäudes gab es nur nackte Steinböden und kahle Wände. Schwestern in gestärkter Tracht schoben eiserne Betten mit Lederriemen durch die Korridore. Alle Türen waren verriegelt, die Fenster vergittert. Zweifellos war das Institut mit seinem Ruf als die führende psychiatrische Klinik in der Stadt eher berüchtigt als berühmt. Es war ein Behandlungszentrum für Abweichler, in dem sich politische Gegner wiederfanden, die man durch Insulin ins Koma versetzte und an denen man die neuesten Fieber- und Schocktherapien ausprobierte - die letzte Institution, an die
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