Kolyma
drang auch schon eiskaltes Wasser ein und füllte ihn binnen Sekunden. Die beiden schwammen zum Ufer und bekamen noch mit, was sich als Letztes auf der Brücke abspielte. Leo und Raisa sprangen hinab und glaubten irrigerweise, sie könnten Soja retten.
Indem sie sich an der Kaimauer entlangzogen, kämpften Soja und Malysch sich flussaufwärts vor. An einem hölzernen Steg trafen sie schließlich wieder mit Frajera zusammen. Aus der Entfernung hörte Soja die verzweifelten Schreie von Raisa und Leo, die sich der Trauer um ein Kind hingaben, das sie für verloren hielten.
* * *
Am Fuß der Treppe zur Oper lungerte ein Mann herum. Soja trat aus ihrem Versteck. Der Mann blickte prüfend die Sztalin ut hinauf und hinab, bevor er sich ihr zuwandte. Soja leerte ihre Taschen und füllte seinen Beutel mit der manipulierten Munition. Der Mann holte eine Pistole hervor und steckte eine Patrone in die Kammer. Sie passte. Während Soja weiter Patronen aus ihrer Tasche in seine Tasche steckte, lud er die anderen Kammern. Als er fertig war, steckte er seine Waffe ein und nickte einmal zum Dank, dann eilte er die Treppe hinunter. Soja zählte bis zwanzig, dann machte sie sich auf den Heimweg.
Es war seltsam, sich diese Stadt als ein Zuhause vorzustellen. Noch vor fünf Monaten hatte Soja über Ungarn lediglich gewusst, dass es ein loyaler Verbündeter der Sowjetunion war, Teil einer internationalen Bruderschaft und ein Vorreiter der Weltrevolution. Frajera hatte diese Schulpropaganda zurechtgerückt und ihr erklärt, dass Ungarn nie die Wahl gehabt hatte. Nachdem man es vom Faschismus befreit hatte, war es okkupiert und unter sowjetische Herrschaft gestellt worden. Ungarn war ein souveräner Staat ohne jede Souveränität. Der langjährige Führer Mätyäs Räkosi, der von Stalin ernannt worden war, hatte seinem Meister in allem nachgeeifert und viele seiner Bürger foltern oder exekutieren lassen. Nach dem Vorbild des sowjetischen Geheimdienstes hatte er den AVH ins Leben gerufen, die ungarische Geheimpolizei. Die Sprache und das Land mochten anders sein, aber der Terror war derselbe. Nach Stalins Tod hatte das Ringen um Reformen begonnen, geschürt vom Traum der Unabhängigkeit. Soja war zwar eine Ausländerin, eine Außenseiterin, doch seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich nirgendwo mehr zu Hause gefühlt als hier in diesem Land, das wie sie selbst gegen seinen Willen adoptiert worden war.
Erleichtert, dass der Abend fast vorbei war und sie die Munition nicht mehr herumtrug, bog Soja in die Nagymezo ut ein. Direkt vor ihr hatte sich eine kleine Menschentraube versammelt.
In ihrer Mitte befanden sich dieselben Männer, denen sie schon zuvor begegnet war. Die einen hatten sich auf die Schultern der anderen gesetzt und eine Straßenlampe von oben bis unten in einen Totempfahl für ihre Plakate verwandelt. Eine Frau in der Menge sah Soja näher kommen. Sie war um die dreißig, untersetzt und stämmig. Und sie war betrunken, ihre Wangen glühten. Wie einen riesigen Schal hatte sie sich eine ungarische Fahne umgelegt. Soja warf einen flüchtigen Blick auf die Laterne und zog das gleiche Plakat, das dort hing, zerknittert aus ihrer Tasche, als ob sie sagen wollte: Ich weiß schon Bescheid.
Doch die Frau gab sich mit dieser Geste nicht zufrieden, sondern zog Soja in die Menschentraube hinein und sprach gut gelaunt auf sie ein. Soja verstand kein Wort. Die Frau fing an zu singen und zu tanzen. Die anderen stimmten ein, alle kannten den Text, alle außer Soja. Sie konnte nur lachen und ein freundliches Gesicht machen und hoffen, dass sie sie am Ende gehen lassen würden. Darauf bedacht, sich zu verdrücken, bevor die anderen merkten, dass sie gar nichts sagte, versuchte sie sich den Zuneigungsbekundungen der fremden Frau zu entwinden. Aber die strahlte plötzlich gar nicht mehr. Ein Lieferwagen war von der Hauptstraße abgebogen und raste auf sie zu. Schleudernd kam er zum Stehen, und zwei AVH-Beamte sprangen heraus.
Die Menge umstellte die Straßenlaterne, als sei sie eine Gefechtslinie, die es zu verteidigen galt. Einer der Beamten griff nach der Fahne, die mittlerweile um Soja drapiert war, riss sie weg und hielt sie verächtlich hoch. Erst jetzt bemerkte Soja, dass man das kommunistische Symbol von Hammer und Sichel herausgeschnitten hatte und in der Mitte des Stoffes ein Loch klaffte. Sie verstand nichts von dem, was der Beamte von sich gab, für sie hörte er sich einfach an wie ein bellender Hund. Wütend über ihr
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