Kolyma
Kneipe im Keller einer Fabrik, die so verqualmt war, dass man die Decke nicht mehr sehen konnte, hatte sie lauter engagierte Leute getroffen. Zsolt war der Sohn eines wohlhabenden ungarischen Diplomaten, dem Macht und Geld offengestanden hätten, wenn er sich nur mit der sowjetischen Besatzung abgefunden und seinen Platz in diesem System eingenommen hätte. Er sprach fließend Russisch und war schnell zu Frajeras wertvollstem Mittelsmann geworden. Frajera hielt ihn bei Laune, schlief mit ihm und beeindruckte ihn mit Geschichten über ihre Rücksichtslosigkeit. Da sie seine Fähigkeiten schätzte, schmeichelte sie ihm, indem sie ihn als revolutionären Freigeist lobte. In Wahrheit sah sie in ihm kaum mehr als einen rebellischen Jüngling, der sich gegen seinen Vater auflehnte, diesen Kriecher, der die Taten der Sowjets beschönigte.
Ungeachtet seiner persönlichen Motive war Zsolt aber tapfer, idealistisch und leicht zu beeinflussen. Um den sechzehn Forderungen Nachdruck zu verleihen, hatte er eine Demonstration vorgeschlagen, ein genialer Einfall. Wie sich zeigte, war man auch andernorts in der Stadt auf diese Idee gekommen, und Frajera fragte sich, ob das wohl das Werk einer von Panins weiteren Zellen war.
Wie auch immer, auf jeden Fall würden sich morgen an entgegengesetzten Treffpunkten zeitgleich zwei Protestmärsche in Bewegung setzen, die am Palffy-Platz zusammentreffen sollten. Auch vorher hatte es in der Hauptstadt schon öffentliche Proteste gegeben, doch viel war nie daraus geworden. Frajera war überzeugt, dass man die Leute dazu bringen musste, Seite an Seite zu marschieren und sich gegenseitig aufzustacheln. Erst dann konnte sich die unterschwellige Wut von einer verbitterten Duckmäuserei in einen Ausbruch entfesselter Gewalt verwandeln wie eine Raupe in einen Schmetterling.
Als sie am Astoria-Hotel ankam, das nur wenige Straßenzüge von ihrer Kommandozentrale entfernt lag, beobachtete Frajera zunächst einen Moment lang prüfend die Kreuzung, dann warf sie einen flüchtigen Blick hinauf zur obersten Fensterreihe des Hotels. Im letzten Fenster brannte anheimelnd eine rote Kerze - ihr bevorzugtes Signal. Diesmal bedeutete es, dass sie nach oben kommen sollte. Frajera lief zum Hintereingang des Hotels, durchquerte den leeren Küchentrakt, stieg dann hinauf bis zur obersten Etage und ging durch den Flur bis zum letzten Zimmer. Sie klopfte. Ein Wachposten öffnete die Tür, er hatte seine Waffe gezückt. Hinter ihm befand sich ein zweiter. Frajera betrat die Suite, wurde gefilzt und dann zur nächsten Tür geleitet. An einem Tisch, den Blick aus dem Fenster gerichtet wie ein grübelnder Poet, saß Frol Panin.
Dass sie sich einmal ausgerechnet mit Panin oder einem von seiner Sorte zusammentun würde, hatte Frajera nie vorgehabt. Aber als sie in Moskau angekommen war, war ihr klar geworden, dass sie sich entweder damit zufriedengeben musste, Leo einfach ein Messer in den Rücken zu stoßen, oder Hilfe brauchte. Auch Budapest war ursprünglich nicht vorgesehen gewesen, es hatte sich einfach ergeben. Mit der Vortäuschung von Sojas Tod hatte sie ihr ursprüngliches Ziel, Leos Traum vom Glück zu zerstören, eigentlich erreicht. Sie hatte Leo gequält, so wie er früher selbst andere gequält hatte, der Verlust eines Sohnes war bezahlt worden mit dem Verlust einer Tochter. Leo war am Boden zerstört, vor ihm lag nichts mehr als Trauer. Selbst das Feuer eines heiligen Zorns, das sie selbst in ihrer Verzweiflung gewärmt hatte, würde ihm verwehrt bleiben. Ihre Rache war vollkommen.
Und was jetzt?
Schnell war ihr klar geworden, dass sie sich nicht einfach wieder aus Panins Umklammerung würde lösen und verschwinden können. Sobald sie ihm nicht mehr nützlich war, würde er ihren Tod befehlen. Zwar konnte sie fliehen, doch dann wartete nur noch ein Leben in Reichtum und das Altwerden auf sie, und daran hatte sie kein Interesse. Als Frajera dann von Panins Auslandsoperationen erfahren hatte, seinen Bemühungen, im Sowjetblock Unruhe zu stiften, hatte sie ihm ihre Unterstützung und die ihrer Männer angeboten. Anfangs war er skeptisch gewesen, bis sie ihm klarmachte, dass sie selbst vermutlich eine erheblich überzeugendere Agitatorin gegen das sowjetische Russland war als die loyalen KGB-Agenten, die er einsetzte.
Jetzt reichte Panin ihr die Hand, eine höfliche, förmliche Geste, die ihr absurd vorkam. Dennoch schlug sie ein. Er lächelte sie an.
»Ich bin extra hergeflogen, um mir ein Bild über die
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