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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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kränken wollen. Verletzt rutschte Malysch vom Geländer und zog sich beleidigt in die Wohnung zurück. Sie musste sich endlich daran gewöhnen, dass er nicht ihre kleine Schwester war, die man einfach herumkommandieren konnte.
    Die Erinnerung an Elena würgte sie wie eine Hand. Unzählige Male hatte sie über ihre Entscheidung nachgegrübelt. Zwar hätte man sie, wenn sie sich Frajera nicht angeschlossen hätte, umgebracht. Doch trotzdem hatte sie nur noch weggewollt, abhauen. Und wenn sie die freie Wahl gehabt hätte, wenn Frajera ihr angeboten hätte, entweder zurück nach Hause zu gehen oder mit ihr zu kommen, auch dann hätte sie ihre kleine Schwester zurückgelassen.
    »Bist du wütend?«
    Soja fuhr hoch und sah, dass es Frajera war. Obwohl sie nun schon fünf Monate zusammenlebten, blieb Frajera doch immer noch Furcht einflößend und unnahbar, eher ein rastloses Energiebündel als ein Mensch. Soja riss sich zusammen.
    »Die Frau mit der Fahne hat mich gerettet. Es ist gut möglich, dass sie dafür stirbt.«
    »Soja, gegen eines solltest du dich wappnen: Es werden noch viele Unschuldige sterben.«

    Am selben Tag

    Frajera stieg die Treppe hinunter und verließ den Hof. Sie überprüfte, dass niemand sie gesehen hatte. Die Straßen waren leer. Keine Spur von den avh -Beamten, die Soja erwähnt hatte. Frajera machte sich auf den Weg. Immer wieder blieb sie absichtlich ganz abrupt stehen und drehte sich um, um ganz sicherzugehen, dass sie auch nicht verfolgt wurde. Sie vertraute niemandem, nicht einmal ihren Anhängern. Die Arbeiter, Studenten und Repräsentanten der verschiedenen im Untergrund operierenden antisowjetischen Widerstandsbewegungen waren naive Umstandskrämer und nur mit ihrem theoretischen Geschwafel beschäftigt. Es wäre dem avh ein Leichtes, sie zu infiltrieren. Diese Leute waren dermaßen mit sich selbst beschäftigt, dass sie keinerlei Warnsignale wahrnahmen und damit alle in Gefahr brachten. Frajera war zwar in Frol Panins Auftrag hier, der avh aber hatte von ihrer Operation keine Ahnung. Wenn man sie fasste, würde man sie erschießen. Die Moskauer Verschwörer hatten niemanden sonst in ihre Pläne eingeweiht, eine Revolte anzuzetteln. Wenn ihre regimekritischen Unterstützer herausfanden, dass sie gleichzeitig auch mit der sowjetischen Regierung gemeinsame Sache machte, würden die sie umbringen.
    Frajera bückte sich und hob ein Flugblatt auf, das im Rinnstein herumflatterte. Es war eine Abschrift der revidierten sechzehn Punkte - sechzehn Forderungen nach Reformen. Man hatte sie gestern Nachmittag während einer überfüllten Zusammenkunft in der Technischen Universität formuliert. Da Frajera nicht als Studentin durchgegangen wäre, hatte sie draußen herumgelungert. Als sie gehört hatte, dass es in dem Treffen darum ging, ob die Studenten aus Protest gegen die sowjetischen Herrschenden aus dem DISZ austreten sollten, dem kommunistischen Studentenbund, hatte sie sich lauthals über ihren feh lender) Mumm beklagt und ihre studentischen Bekannten dazu animiert, waghalsigere Aktionen in die Diskussion zu werfen.
    Seit vier Monaten arbeitete sie nun schon an dieser Sache, machte Druck, bot materielle Unterstützung an und schürte nach Kräften die Ressentiments gegen die Besatzer. Der Hass war ja schon da und auch tief verwurzelt, doch Frajera unternahm alles, damit er sich auch in handfesten Aktionen entlud. Da sie das nicht allein bewerkstelligen konnte, musste sie diese Amateurdissidenten anleiten. Gestern hatte sie endlich Erfolg gehabt. Mit einer Entschlossenheit und Klarheit, die sogar Frajera überrascht hatte, hatten die Studenten die Ergebnisse ihrer Debatte in sechzehn Punkten zusammengefasst:

    In Übereinstimmung mit dem Friedensvertrag fordern wir den unverzüglichen Rückzug aller sowjetischen Truppen.

    Auf den hingekritzelten Notizen, die man ihr aus dem Saal herausreichte, hatte diese Forderung an vierter Stelle rangiert. Frajera war zurück in ihre Wohnung geeilt und hatte die Notizen abgeschrieben, allerdings mit einer Änderung: Die Forderung nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen stand jetzt an erster Stelle. Nur Stunden später verteilten ihre wory auf der Straße Abzüge der geänderten Liste, ergänzt durch die provokantesten Passagen der Geheimen Rede.
    Abgesehen von den wory, dem Rest ihrer Bande, war ihr engster Mitstreiter ihr Übersetzer Zsolt Polgar, ein Maschinenbaustudent, den sie in einer revolutionären Untergrundkneipe kennengelernt hatte. In dieser

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