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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Aufregung ganz heiß. Mit ihrem knielangen Mantel und dem schwarzen, schräg in die Stirn gezogenen Barett sah sie älter aus als vierzehn, eher wie eine ungarische Studentin als wie eine russische Waise. Nervös und schwitzend riss sie sich das Barett vom Kopf und stopfte es über die Patronen in die Manteltasche, um das verräterische Geklimper zu dämpfen.
    Als sie die große Ausfallstraße Sztalin ut erreichte, die nicht weit vom Opernhaus lag, blieb Soja stehen und überprüfte, ob ihr auch niemand gefolgt war. Ohne dass sie damit gerechnet hätte, fasste jemand sie plötzlich um die Schultern. Sie wirbelte herum und fand sich umringt von einer Gruppe junger Männer, die sie zunächst für ungarische Geheimpolizisten hielt. Doch dann küsste sie einer auf die Wange und drückte ihr ein Blatt in die Hand, irgendein Pamphlet. Die Männer redeten wild auf sie ein. Soja war erst seit vier Monaten in der Stadt und hatte bislang nur ein paar Brocken Ungarisch aufgeschnappt. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, waren es Studenten oder Künstler, keine Beamten. Soja atmete auf. Trotzdem musste sie vorsichtig sein. Wer wusste schon, wie diese Leute reagieren würden, wenn sie erst mitbekamen, dass sie Russin war? Sie lächelte scheu und hoffte, dass man sie für schüchtern hielt und gehen ließ. Aber die Männer zeigten ohnehin kaum Interesse an ihr, sondern entrollten ein Plakat und klebten es an ein Schaufenster. Soja machte sich aus dem Staub und eilte ihrem Ziel entgegen.
    Sie erreichte das Opernhaus, erklomm die steinerne Treppe und verbarg sich hinter den Säulen, damit man sie von der Straße aus nicht sehen konnte. Dann sah sie auf ihre Uhr, ein Geschenk von Frajera. Sie war zu früh dran, also zog sie sich in den Schatten zurück und wartete darauf, dass ihr Kontaktmann eintraf. Es war der erste Auftrag, den sie allein ausführte, normalerweise arbeitete sie mit Malysch zusammen. Sie beide waren ein Gespann - eine Partnerschaft, die fünf Monate zuvor in Moskau geschmiedet worden war.
    Als man Soja in jener Nacht aus ihrer Zelle geholt hatte, war sie sicher gewesen, dass Frajera sie umbringen würde, um Leo zu bestrafen. Sie blickte also erneut dem Tod ins Auge und stellte fest, dass es ihr diesmal überhaupt nicht mehr gleichgültig war.
    »Malysch!«, rief sie.
    Frajera ließ sie herunter. »Warum hast du nach ihm gerufen?«
    »Weil ich ... ihn gern habe.«
    Frajera grinste. Dann verwandelte sich das Grinsen in ein zunächst leises, dann immer lauteres Lachen, in das der Kerl neben ihr einstimmte - ein verächtliches Duett. Soja wurde rot, ihr Gesicht brannte vor Scham. Gedemütigt ging sie mit erhobenen Fäusten auf Frajera los, doch bevor sie zuschlagen konnte, umklammerte Frajera ihre Handgelenke.
    »Ich gebe dir eine Chance. Nur eine. Wenn du versagst, bringe ich dich um. Wenn du es schaffst, wirst du eine von uns. Dann kannst du mit Malysch zusammenbleiben.«
    In jener Nacht hatte man sie auf die Bolschoi-Krasnocholom -Brücke gefahren, und alles war so gekommen, wie Frajera es vorhergesagt hatte. Leo und Raisa warteten auf der Brücke. Nass geregnet stiegen sie vorne in den Wagen. Soja, die durch ein Gitter von ihnen getrennt war, hatte in Raisas qualvoll verzerrtes Gesicht geblickt. In diesem Moment kamen ihr noch einmal Zweifel, aber es war schon zu spät, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Sie presste die Hände gegen das Gitter und sagte dabei ihrem unglücklichen Dasein Lebewohl - eine Entscheidung, die es mit sich brachte, dass sie auch ihre kleine Schwester zurücklassen musste. Als man sie aus dem Wagen zerrte, hatte sie so getan, als wehre sie sich. Außer Sichtweite kletterte sie freiwillig in den Sack, in dem schon Malysch hockte und auf sie wartete.
    Der Sack wurde an den Rand der Brücke geschleppt. Soja tat weiter so, als wehre sie sich, bis sie vollkommen unerwartet zusammengeschlagen wurde. Der Sack wurde zugeschnürt. In der Dunkelheit umklammerte Malysch sie und hielt sie fest, während man sie hinunterstieß. Für kurze Zeit schwebten sie eng umschlungen in der Finsternis - dann klatschten sie ins Wasser.
    Sofort zogen Eisengewichte sie nach unten. Sie steckten in einem Sack aus wasserdichtem Wachstuch, der ihnen eine Minute Luft zum Atmen lassen würde. Dumpf trafen die Eisengewichte auf den Grund auf, und Soja und Malysch kippten in ihrem Sack zur Seite. Ohne etwas sehen zu können, klappte Malysch sein Messer auf und stach durch die Plane. Kaum hatte er den Sack durchtrennt,

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