Kolyma
Schweigen durchsuchte er ihre Taschen. Als er nichts fand außer dem Barett, warf er es ihr wieder zu. Eine einzelne Patrone, die sich darin verheddert hatte, klackerte auf die Straße.
Der Polizist hob sie auf und starrte Soja dann direkt an. Bevor er noch etwas sagen konnte, griff die Betrunkene zu, riss Soja das Barett wieder aus der Hand und setzte es sich stolz auf. Es war ihr zu klein und ließ sie lächerlich aussehen. Der Beamte konzentrierte sich auf die Frau. Soja musste kein Ungarisch können, um zu verstehen, dass er sie fragte, ob das Barett ihr gehöre. Der Polizist hielt ihr die Patrone vors Gesicht. Vermutlich fragte er, ob auch die ihr gehöre. Als Antwort spuckte sie ihm ins Gesicht. Während der Mann sich den Speichel vom Gesicht wischte, warf die Frau Soja einen flüchtigen Blick zu, der ihr sagte: Hau ab!
Soja rannte quer über die Straße. Mitten im Lauf wandte sie den Kopf und schaute über die Schulter. Sie sah, wie der AVH-Beamte ausholte und der Frau ins Gesicht schlug. Als ob sie selbst getroffen worden wäre, knickten Soja die Beine weg, und sie flog hin. Ihre Hände schürften über den Boden. Sie rollte sich auf den Rücken und sah über ihre Schuhspitzen hinweg, wie die Frau zu Boden ging. Ein Mann sprang vor und packte den Beamten, ein zweiter mischte sich in das Handgemenge ein. Soja rappelte sich hoch und rannte weiter, diesmal schaffte sie es bis zur anderen Straßenseite. Selbst als sie außer Sichtweite war, blieb sie nicht stehen. Sie musste Hilfe holen. Frajera würde wissen, was zu tun war.
Frajera und ihre wory hausten in mehreren Wohnungen in einem kleinen Hinterhofgebäude, das zurückgesetzt an der Rdkoczi ut lag. Man erreichte es nur durch eine schmale Gasse und konnte es deshalb auch von der Straße aus nicht sehen oder gar beobachten. Als sie dort ankam, verfiel Soja in einen Trott. Niemand folgte ihr. Gerade war sie in der unbeleuchteten Gasse angelangt und erleichtert, von der Straße weg zu sein, da legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Es war Malysch. Sie fielen sich in die Arme.
»Geht es dir gut?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
Sie betraten den Hof. Die Wohnungen waren über sechs Etagen verteilt. Frajera hatte gleich mehrere in Beschlag genommen, die in verschiedenen Stockwerken lagen und alle eine andere Bestimmung hatten. In einer stand eine kleine Druckerpresse, mit der man Zettel und Plakate herstellen konnte. In einer zweiten befand sich das Waffen- und Munitionsarsenal. Eine dritte diente als Versammlungsort, wo die Leute essen, schlafen und reden konnten. Soja betrat die Gemeinschaftswohnung und war erstaunt über die Anzahl der Leute. Es waren viel mehr als sonst. Auf der einen Seite saßen lauter ungarische Männer und Frauen, alle um die zwanzig, die leidenschaftlich miteinander diskutierten. Auf der anderen Seite waren die wory. Die meisten waren nicht mit nach Budapest gekommen, sondern hatten die Vertrautheit der Moskauer Unterwelt vorgezogen. Sie verstanden nicht, was Frajera mit Panin ausgehandelt hatte, und konnten sich kein Leben außerhalb von Russland vorstellen. Nur ein paar ihrer glühendsten Anhänger waren Frajera gefolgt, zum Teil aus Loyalität, zum Teil aber auch, weil sie wussten, dass keine andere Moskauer Verbrecherbande sie aufnehmen würde. Von vorher fünfzehn waren nur noch vier übrig.
Frajera saß in der Mitte des Raumes, zwischen den Gruppen. Sie hörte auch zu, wenn Ungarisch gesprochen wurde, achtete dann auf die Körpersprache und die Gesten. Sie sah Soja sofort und bemerkte auch ihre Verzweiflung. »Was ist passiert?«
Soja berichtete. Frajeras Augen begannen zu funkeln. Sie drehte sich um und wandte sich an ihren Übersetzer, einen ungarischen Studenten namens Zsolt Polgar.
»Sucht so viele ungarische Fahnen zusammen wie möglich. Dann schneidet Hammer und Sichel heraus, sodass in der Mitte nur noch ein Loch ist. Dies ist das Symbol, auf das wir gewartet haben.«
Die Frau, die ihr Leben riskiert hatte, um Soja zu retten, interessierte Frajera gar nicht. Aufgebracht verließ Soja die Wohnung. Sie lehnte sich ans Balkongeländer. Malysch kam ihr nach. Er zündete sich eine Zigarette an, eine Angewohnheit, die er den anderen wory abgeschaut hatte. Sie nahm ihm die Zigarette aus dem Mund und trat sie mit dem Fuß aus. »Davon stinkst du.«
Im nächsten Moment bereute sie ihre Worte. Wenn er rauchte, konnte man es zwar tatsächlich riechen, er roch dann wie die anderen wory. Aber sie hatte ihn doch nicht
Weitere Kostenlose Bücher