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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Fortschritte zu machen. Unsere Truppen stehen an der Grenze bereit, und das nun schon seit einiger Zeit. Aber sie bekommen nichts zu tun.«
    »Sie kriegen Ihren Aufstand schon noch.«
    »Ich brauche ihn aber jetzt. In einem Jahr nützt er mir nichts mehr.«
    »Wir stehen kurz davor.«
    »Meine anderen Zellen haben erheblich mehr Erfolg zu verbuchen als Sie. In Polen zum Beispiel ...«
    »Die Unruhen, die Sie in Posen ausgelöst haben, wurden niedergeschlagen, ohne dass Chruschtschows Ansehen nennenswert gelitten hätte. Wenn sie die Wirkung gehabt hätten, die Sie sich erhofft hatten, dann würden Sie sich jetzt nicht mehr mit Budapest beschäftigen.«
    Panin nickte. Er bewunderte Frajeras Gabe, eine Situation blitzschnell zu analysieren. Natürlich hatte sie recht. Chruschtschows Pläne, die konventionellen Streitkräfte abzurüsten, waren nicht torpediert worden. Diese Abrüstung war ein zentraler Punkt seiner Reformen. Nach Chruschtschows Auffassung benötigte die Sowjetunion die alte Stärke an Panzern und Truppen nicht mehr. Schließlich besaßen sie ja jetzt nukleare Abschreckungswaffen und arbeiteten außerdem an der Entwicklung eines Raketensystems, für das man nur noch eine Handvoll Ingenieure und Wissenschaftler brauchte, aber nicht Millionen von Soldaten.
    Panin hielt das für die schlimmste Form politischer Waghalsigkeit. Abgesehen davon, dass die Raketen noch gar nicht ausgereift waren, unterlag Chruschtschow bezüglich der Bedeutung des Militärs einer ebenso fundamentalen Fehleinschätzung wie bei den Auswirkungen seiner Geheimen Rede. Die konventionellen Truppen waren nicht nur zum Schutz vor ausländischen Aggressoren da, sondern auch, um die Sowjetunion zusammenzuhalten. Der Kitt des Sowjetblocks war nicht etwa eine gemeinsame Ideologie, sondern Panzer, Soldaten und Flugzeuge. Die Kürzungen, die Chruschtschow im Sinn hatte, und die rücksichtslosen Sabotageakte, die seine Rede ausgelöst hatte, brachten die Nation in größte Gefahr. Nach Panins Überzeugung und der seiner Mitstreiter durfte man die konventionellen Streitkräfte nicht nur nicht verkleinern, sondern musste sie im Gegenteil sogar ausbauen und aufrüsten. Die Ausgaben mussten erhöht, nicht gesenkt werden. Ein Zwischenfall in Budapest oder irgendeiner anderen osteuropäischen Stadt würde beweisen, dass das gesamte Gefüge der Revolution vor allem von den konventionellen Streitkräften abhing, nicht nur vom atomaren Arsenal. Wenn man die Leute zu Hause und im Ausland daran erinnern wollte, wer hier das Sagen hatte, waren sieben Millionen Männer unter Waffen durchaus eine Hilfe.
    »Und was für Neuigkeiten haben Sie für mich?«, fragte Panin.
    Frajera reichte ihm das Flugblatt mit den sechzehn Forderungen. »Morgen findet eine Demonstration statt.«
    Panin warf einen kurzen Blick auf das Blatt. »Was steht da?«
    »Die erste Forderung ist, dass die sowjetischen Truppen das Land verlassen sollen. Es ist ein Ruf nach Freiheit.«
    »Und kommt auch ausreichend heraus, dass das Ganze von Chruschtschows Rede inspiriert wurde?«
    »Natürlich. Aber Demonstrationen allein reichen nicht.«
    »Was brauchen Sie sonst noch?«
    »Eine Garantie, dass Sie auch auf die Menge schießen werden.«
    Panin legte das Flugblatt auf den Schreibtisch. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
    »Das muss klappen! Trotz allem, was die Leute hier durchgemacht haben, trotz all der Verhaftungen und Exekutionen werden sie sich nur zu Gewalt hinreißen lassen, wenn sie provoziert werden. Die sind nicht wie ...«
    »Wie wir?«
    Frajera wandte sich zum Gehen, blieb an der Tür aber noch einmal stehen und drehte sich zu Panin um. »Gab es sonst noch etwas?«
    Panin schüttelte den Kopf. »Nein, das war alles.«

Sowjetunion
    Grenze zu Ungarn, die Stadt Beregowo

    23. Oktober

    Der Zug war randvoll mit Soldaten. Derbe Gesprächsfetzen flogen hin und her. Die Truppen wurden in Vorbereitung des geplanten Aufstands mobilisiert, wovon sie allerdings nichts ahnten. Es gab keinerlei Anzeichen von Angst oder Beklommenheit. Ihre ausgelassene Stimmung stand in völligem Gegensatz zu der von Leo und Raisa, die fast die einzigen Zivilisten an Bord waren.
    Als Leo die Nachricht erfahren hatte, dass Soja lebte, hatten in seinem Innern Erleichterung und Schmerz miteinander gerungen. Ungläubig hatte er Panin zugehört, als der ihm noch einmal die Ereignisse auf der Brücke vergegenwärtigt hatte, wozu auch gehörte, dass Soja sie bewusst getäuscht hatte und freiwillig mit

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