Kolyma
einer Frau kollaborierte, die nichts anderes wollte, als Leo zu quälen. Soja lebte also. Es war ein Wunder, aber auch ein grausames - wohl die schlimmste gute Nachricht, die Leo je erhalten hatte.
Später berichtete Leo Raisa, was vorgefallen war, und erlebte bei ihr dieselbe Verwandlung von anfänglicher Erleichterung hin zur Qual. Da kniete er sich vor sie hin und bat sie immer wieder um Vergebung dafür, dass er ihr das angetan hatte, dass sie dafür bestraft wurde, dass sie ihn liebte. Raisa ließ sich nicht zu einer Antwort hinreißen. Stattdessen ging sie die Geschehnisse noch einmal im Geiste durch und überlegte, was sie über Sojas geistige Verfassung verrieten. Nur eine einzige Frage trieb sie um: Wie würden sie ihre Tochter nach Hause holen?
Raisa fiel es nicht schwer sich vorzustellen, dass Panin sie betrogen hatte. Ebenso leuchtete ihr ein, wieso Frajera mit ihm zusammengearbeitet hatte, um in Moskau ihren Rachefeldzug durchzuführen. Panins politisches Manöver allerdings, im Sowjetblock Aufstände zu lancieren und damit Tausende Menschenleben zu opfern, nur um die Machtstellung der Falken im Kreml wieder zu festigen, war an Zynismus kaum zu überbieten. Was ausgerechnet Frajera daran gutheißen konnte, verstand Raisa überhaupt nicht. Frajera machte gemeinsame Sache mit den Stalinisten, genau den Leuten also, die sich um ihre Einkerkerung ebenso wenig scherten wie um den Verlust ihres Kindes oder überhaupt den Verlust irgendeines Kindes. Dass Soja übergelaufen war, verwunderte Raisa hingegen weniger - wenn man es überhaupt so nennen konnte, denn eigentlich lief Soja ja nur von einer kaputten Familie zur nächsten. Raisa konnte sich gut vorstellen, dass jemand wie Frajera auf eine unglückliche Halbwüchsige eine geradezu berauschende Anziehungskraft ausüben musste.
Leo versuchte nicht einmal, Raisa auszureden, dass sie ihn nach Budapest begleitete. Er brauchte sie ja. Raisas Chance, zu Soja durchzudringen, war erheblich größer als seine. Raisa wollte von ihm wissen, ob sie auch bereit seien, Gewalt anzuwenden, falls Soja sich weigerte, mit nach Hause zu kommen. Leo fand die Vorstellung grauenvoll, die eigene Tochter entführen zu müssen, doch er nickte.
Da weder Leo noch Raisa Ungarisch konnten, hatte Frol Panin dafür gesorgt, dass sie von dem fünfundvierzigjährigen Karoly Teglas begleitet wurden. Der hatte nicht nur früher als Geheimagent in Budapest gearbeitet, er war auch gebürtiger Ungar. Nach dem Krieg war er vom KGB rekrutiert worden und hatte unter dem verhassten Führer Räkosi gedient. In letzter Zeit hatte er sich vorübergehend in Moskau aufgehalten und die Machthaber über die in Ungarn drohende Krise beraten. Karoly hatte sich bereiterklärt, Leo und Raisa als Ortskundiger und Übersetzer zu begleiten.
Jetzt kehrte Karoly von der Toilette zurück und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Dann setzte er sich Leo und Raisa gegenüber hin. Alles an ihm war rund. Sein Bauch war stattlich, die Backen dick, sogar eine runde Brille trug er. Auf den ersten Blick wirkte er durch diese Ansammlung von Wölbungen überhaupt nicht wie ein Agent und erst recht nicht gefährlich.
Der Zug wurde langsamer. Sie näherten sich der Stadt Beregowo, auf sowjetischer Seite der äußerst befestigten Grenze.
Raisa lehnte sich vor und fragte Karoly: »Warum hat Panin uns nach Budapest fahren lassen, wenn Frajera doch eigentlich für ihn arbeitet?«
Karoly zuckte die Achseln. »Das müssen Sie Panin schon selbst fragen. Ich kann Ihnen nichts sagen. Sie können ja umkehren, wenn Sie möchten. Ich habe nicht zu entscheiden, wohin Sie gehen.«
Karoly schaute aus dem Fenster. »Die Soldaten werden vor der Grenze aussteigen«, bemerkte er dann. »Von jetzt an benehmen wir uns wie Einheimische. Da, wo wir hinwollen, sind Russen nicht erwünscht.«
Er wandte sich an Raisa. »Da drüben machen sie keinen Unterschied zwischen Ihnen und Ihrem Mann. Denen ist es egal, ob Sie nur die Lehrerin sind und Ihr Mann der Polizist. Man wird Sie trotzdem hassen.«
Raisa wollte sich seinen herablassenden Ton nicht gefallen lassen. »Mit Hass kenne ich mich aus.«
* * *
An der Grenze übergab Karoly die Papiere. Als er sich umblickte, sah er Leo und Raisa in ein Gespräch vertieft weiter hinten im Waggon sitzen. Sie achteten peinlich darauf, ihm nicht einmal einen verstohlenen Blick zuzuwerfen, woraus er schloss, dass sie darüber beratschlagten, wie weit sie ihm vertrauen konnten. Wenn sie schlau
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