Kolyma
Apotheke angekommen waren. Es ging nicht mehr weiter, an Flucht war nicht zu denken. Aber der Panzer feuerte nicht. Die Luke ging auf, ein Soldat kam zum Vorschein und setzte sich hinter das Bordmaschinengewehr.
Gelähmt vor Angst blieben Soja und Malysch hocken. In dem Moment, als der Soldat das Maschinengewehr in ihre Richtung schwenkte, traf ihn eine Kugel in den Kiefer. Weitere Geschosse schlugen auf dem Panzer ein, sie kamen aus allen Richtungen des Platzes. Unter Beschuss wurde der tote Soldat ins Panzerinnere gezerrt. Noch bevor man die Luke wieder schließen konnte, rannten zwei Männer auf den Panzer zu. In den Armen hielten sie Glasflaschen, aus deren Hälsen brennende Lappen ragten. Sie warfen sie hinein. Es war, als hätten sie Feuer in den Panzer gegossen.
Malysch packte Soja. »Wir müssen hier weg.«
Ausnahmsweise hatte Soja keine Einwände.
Osteuropa, Sowjetzone
Ungarn, am Stadtrand von Budapest, Budaer Hügel
27. Oktober
Leo ärgerte sich zunehmend, dass ihr Führer es überhaupt nicht eilig zu haben schien. Sie waren schon ewig unterwegs. Für die tausend Kilometer bis zur ungarischen Grenze hatten sie nur zwei Tage gebraucht und nun schon drei für die restlichen dreihundert Kilometer bis nach Budapest. Erst als Karoly in den Radionachrichten gehört hatte, dass in Budapest Unruhen ausgebrochen waren, schien es endlich schneller voranzugehen. Auf ihre Fragen konnte er ihnen auch nur die Berichte aus dem Radio übersetzen: Harmlose zivile Unruhen, die von einer Bande von Faschisten verübt worden waren. Aus diesen Worten ließ sich unmöglich ableiten, wie schwer diese Unruhen tatsächlich waren. Radiosendungen wurden zensiert, und mit Sicherheit spielten sie den Aufruhr herunter. Die Aufforderung an die Unruhestifter, wieder nach Hause zu gehen, ließ allerdings vermuten, dass die Behörden die Lage nicht mehr unter Kontrolle hatten. Da sie nichts Genaues wussten, entschied Karoly, dass es zu gefährlich sei, auf direktem Wege in die Stadt zu fahren. Stattdessen fuhren sie im Halbkreis um die Stadt und wichen mehreren Blockaden der sowjetischen Armee aus. So kam es, dass sie nun die Wohnviertel von Buda durchquerten und das Zentrum mit den Regierungs- und Verwaltungsgebäuden und der kommunistischen Parteizentrale, wo Aufstände am ehesten zu erwarten waren, tunlichst vermieden.
Bei Sonnenaufgang stoppte Karoly den Wagen endlich an einem Aussichtspunkt auf dem Budaer Hügel, der mehrere Hundert Meter oberhalb der Stadt lag. Die benachbarten Straßen waren menschenleer. Unten im Tal floss die Donau durch die Stadt und teilte sie in zwei Hälften, Buda und Pest. Während es in Buda noch weitgehend ruhig war, hörte man von der Pester Flussseite Schüsse. Aus verschiedenen Gebäuden stiegen dünne Rauchwolken auf.
»Haben die sowjetischen Truppen die Stadt schon gestürmt?«, fragte Leo. »Ist der Aufstand niedergeschlagen?«
Karoly zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht mehr als Sie.«
Raisa schaute ihn an. »Aber das ist doch Ihre Heimat. Es sind Ihre Leute. Und die missbraucht Panin, nur um einen politischen Zwist zu seinen Gunsten zu entscheiden. Wie können Sie nur für ihn arbeiten?«
Karoly wurde ärgerlich. »Meine Leute wären gut beraten, wenn sie aufhören würden, von der Freiheit zu träumen. Sonst reißen sie die anderen nur mit in den Tod. Wenn diese Störenfriede endlich ausgemerzt sind, ist es für die anderen nur gut. Halten Sie von mir, was Sie wollen, aber eigentlich will ich nur meine Ruhe.«
Karoly stieg aus dem Wagen und machte sich auf den Weg den Hügel hinab. »Zuerst gehen wir in meine Wohnung.«
Karolys Wohnung lag ganz in ihrer Nähe, unterhalb des Schlosses an den Donauhängen.
Während sie die Treppe bis zur obersten Etage hochstiegen, fragte Leo: »Leben Sie allein?«
»Mein Sohn wohnt bei mir.«
Eine Familie hatte Karoly nie erwähnt, und auch jetzt ließ er sich nicht mehr entlocken. Stattdessen betrat er die Wohnung und lief von Zimmer zu Zimmer. »Victor?«, rief er.
Raisa fragte ihn: »Wie alt ist Ihr Sohn?«
»Er ist dreiundzwanzig.«
»Dann gibt es bestimmt eine ziemlich einfache Erklärung dafür, wo er gerade steckt.«
»Was ist er von Beruf?«, fragte Leo. »Er ist kürzlich dem AVH beigetreten.« Leo und Raisa schwiegen. Erst jetzt begriffen sie die Besorgnis ihres Führers.
Karoly starrte aus dem Fenster. Er sprach mehr zu sich selbst als zu Leo und Raisa. »Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Wenn ein Aufstand ausgebrochen
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