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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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ist, hat der AVH bestimmt alle Beamten ins Hauptquartier beordert. Da wird er sein.«
    In der Wohnung stapelten sich Lebensmittel, Paraffin, Kerzen und eine erkleckliche Anzahl an Waffen. Seit sie die Grenze überquert hatten, trug Karoly selbst auch eine Waffe. Jetzt riet er Leo und Raisa, seinem Beispiel zu folgen, denn auch für Unbewaffnete gab es keine Garantie, dass man sie als Zivilisten behandeln würde. Leo wählte eine TT -33, eine handliche, robuste Pistole aus sowjetischer Produktion. Widerwillig nahm Raisa sie an sich, und erst der Gedanke an die Gefahr, die von Frajera ausging, brachte sie dazu, sich damit vertraut zu machen.
    Sie verließen die Wohnung und stiegen den Hügel hinab. Unten würden sie die Donau überqueren und den anderen Teil der Stadt betreten. Sehr wahrscheinlich befand sich Soja an der Seite Frajeras, und zwar mitten im Zentrum des Aufstands. Sie überquerten den Szenater und suchten sich dann einen Weg durch mehrere improvisierte Schanzen. In Hauseingängen saßen junge Männer und rauchten, neben sich Stapel vorbereiteter Molotowcocktails. Straßenbahnen waren umgeworfen und zu Straßensperren umfunktioniert worden. Von den Hausdächern verfolgten Heckenschützen jede ihrer Bewegungen. Um keinen Verdacht zu erregen, gingen die drei auf ihrem Weg zum Fluss sehr langsam.
    Karoly brachte sie zur Margithid, einer breiten Brücke, die über eine kleine Insel in der Donau hinweg bis zur anderen Seite nach Pest führte. Als sie fast in der Mitte waren, bedeutete Karoly ihnen stehen zu bleiben. Er hockte sich hin und zeigte auf die nächste Brücke. Dort waren Panzer postiert. Rund um den Parlamentsplatz konnte man schweres Kriegsgerät ausmachen. Ganz offensichtlich waren also sowjetische Truppen im Einsatz, hatten aber, nach den Schanzen der Aufständischen zu urteilen, noch nicht alles unter Kontrolle. Da sie von allen Seiten ungeschützt waren, eilte Karoly tief gebückt weiter, Leo und Raisa folgten ihm, während ein kalter Wind an ihnen riss. Als sie die andere Seite erreicht hatten, waren sie überaus erleichtert.
    Die Stadt befand sich in einem schizophrenen Zustand. Weder war sie ein Kriegsschauplatz noch ein völlig normaler Ort, sondern irgendwie beides zugleich. Von einer Ecke zur nächsten konnte sich das Bild ändern. Soja konnte überall sein. Leo hatte zwei Fotos mitgenommen, eines von Soja zusammen mit ihnen, das sie erst vor wenigen Monaten hatten aufnehmen lassen und auf dem sie elend und unglücklich aussah, blass vor Widerwillen. Das andere war Frajeras Fahndungsfoto. Sie hatte sich so sehr verändert, dass es kaum noch zu gebrauchen war. Karoly zeigte die Bilder allen möglichen Passanten, und alle wollten helfen. Offenbar gab es viele Familien, die dasselbe machten wie sie und auf diese Weise nach vermissten Verwandten suchten. Doch immer wurden ihnen die Fotos mit bedauerndem Achselzucken zurückgereicht.
    Sie eilten weiter und kamen in eine schmale Gasse, in der von den Kämpfen nicht das Geringste zu merken war. Es war später Vormittag, und ein kleines Cafe hatte geöffnet. Gäste saßen da und nippten an ihrem Kaffee, als sei alles in bester Ordnung. Der einzige Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte, waren die vielen Flugblätter, die überall in der Gosse lagen. Leo bückte sich, hob ein paar der Blättchen hoch und wischte sie ab. Ganz oben befand sich ein Stempel, eine Art Emblem. Es war ein orthodoxes Kreuz. Der Text darunter war auf Ungarisch, aber den Namen erkannte er: Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Das war Frajeras Werk. Aufgeregt über diesen Beweis, dass sie sich in der Stadt befand, trug er das Flugblatt zu Karoly.
    Karoly stand da und starrte unverwandt auf einen Punkt in der Ferne. Leo folgte seinem Blick. An ihrem Ende traf die Straße auf einen kleinen Platz, auf dem ein einzelner, nackter Baum stand. Während sie selbst im Schatten waren, wurde der Platz von der Sonne beschienen. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, konzentrierte Leo sich auf den Baumstamm. Er schien zu schwanken.
    Karoly rannte los. Leo und Raisa liefen ihm hinterher. Als sie am Cafe vorbeikamen, zogen sie die Aufmerksamkeit der am Fenster sitzenden Gäste auf sich. Sie erreichten das Ende der Straße und blieben kurz vor der Schattengrenze stehen. Vom dicksten Ast des Baumes hing kopfüber ein Mann herab. Seine Füße waren mit einem Seil zusammengebunden, die Arme schwangen hin und her wie ein gespenstisches Glockenspiel. Unter ihm hatte man ein Feuer

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