Kolyma
entzündet, sodass ihm am Kopf Haare, Haut und Fleisch verbrannt waren. Seine Gesichtszüge waren nicht mehr zu erkennen. Man hatte ihn bis zur Hüfte entkleidet, nur die Hosen hatte man ihm als letzte Zurückhaltung in diesem grausamen Mordakt gelassen. Das Feuer hatte auch seine Schultern verbrannt, sein gesamter Torso war schwarz von Ruß. An den Hautstellen, die unversehrt geblieben waren, konnte man das Alter des Mannes abschätzen. Er war noch sehr jung gewesen. Seine Uniformjacke, sein Hemd und seine Mütze lagen unter ihm in der Asche. Man hatte ihn mit seiner eigenen Uniform verbrannt. Als würde sie ihm ins Ohr flüstern, meinte Leo Frajeras Stimme zu hören:
Genau das werden sie auch mit dir anstellen.
Der Mann hatte zur AVH gehört, der ungarischen Geheimpolizei.
Leo drehte sich zu Karoly um. Der raufte sich die Haare, als seien sie von Läusen befallen. »Ich ...«, flüsterte er.
Er ging näher heran und streckte die Hand aus, um das verkohlte Gesicht zu berühren, zog sie aber wieder zurück und umkreiste die Leiche. »Ich weiß nicht...«
Er wandte sich Leo zu. »Ich weiß nicht, ob das mein Sohn ist.«
Er fiel auf die Knie, mitten in das erloschene Feuer, und ein Aschewölkchen stieg auf. Passanten versammelten sich um sie und glotzten. Leo wandte den Kopf, um in ihre Gesichter zu sehen: Was er las, waren Feindseligkeit und Wut angesichts dieser Trauer des Gegners, Wut darüber, dass man ihre Gerechtigkeit in Zweifel zog. Leo hockte sich neben Karoly und legte einen Arm um ihn. »Wir müssen weiter.«
»Ich bin sein Vater. Ich müsste es doch wissen.«
»Das ist nicht Ihr Sohn. Bestimmt lebt Ihr Sohn. Wir werden ihn finden. Jetzt müssen wir los.«
»Ja, er lebt noch. Er lebt doch noch, oder?«
Leo half Karoly auf. Aber die Menge wollte sie nicht durchlassen.
Leo sah, wie Raisas Hand auf die Waffe zukroch, die sie in ihrem Hosenbund versteckt hatte. Raisa hatte recht, sie waren in Gefahr. Mehrere Leute in der Menge begannen miteinander zu tuscheln. Einer hatte einen Gurt mit fingerdicken Patronen um den Hals hängen. Ihr Ton hörte sich anklagend an.
Immer noch mit Tränen in den Augen zog Karoly die Fotos von Soja und Frajera hervor. Als er die Fotos sah, entspannte sich der Mann mit dem Patronengurt und legte Karoly eine Hand auf die Schulter. Sie sprachen eine Weile miteinander. Dann zerstreute sich die Menge.
Als alle verschwunden waren, flüsterte Karoly Leo und Raisa zu: »Ihre Tochter hat uns gerade das Leben gerettet.«
»Hat der Mann sie gesehen?«
»Er hat sie am Corvin-Kino kämpfen sehen.«
»Was hat er noch gesagt?«
Karoly dachte kurz nach. »Sie können stolz auf sie sein. Sie hat viele Russen getötet.«
Am selben Tag
Der näher kommende sowjetische Mannschaftswagen löste in der Menge eine Panik aus, als sei mitten unter ihnen eine Bombe detoniert. Samt und sonders stoben sie in alle Richtungen davon, jeder wollte unbedingt weg von der Straße. Raisa rannte so schnell sie konnte, neben ihr waren Männer, Frauen und Kinder, immer wieder neue Gesichter. Ein älterer Mann fiel hin, eine Frau versuchte ihm zu helfen. Sie zog an seinem Mantel und versuchte ihn von der Straße wegzuzerren. Entweder hatte man den Mann in dem gepanzerten Mannschaftswagen nicht gesehen, oder es kümmerte keinen, auf jeden Fall würde er die beiden gleich überfahren, als seien sie nur ein Hindernis. Raisa eilte zurück und hievte den Mann gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor das Kettenfahrzeug knirschend vorbeifuhr. Die Ketten kamen ihr so nah, dass sie einen metallischen Geruch in der Luft wahrnahm.
Raisa sah die Straße auf und ab. Weder Leo noch Karoly waren zu sehen, aber weit konnten sie nicht sein. Sie nutzte das Durcheinander aus, das der Mannschaftswagen verursacht hatte, und bog in die nächste Nebenstraße ab. Dann rannte sie weiter, bis sie nicht mehr konnte, blieb stehen und wartete keuchend. Sie hatte sich von Leo getrennt. Jetzt konnte sie allein nach Soja suchen.
Die Idee war ihr bereits in Moskau gekommen, fast sofort, als sie gehört hatte, dass Soja noch lebte. Ein Leben mit Raisa konnte Soja sich vorstellen, so hatte sie es ihr jedenfalls gesagt. Ein Leben mit Leo allerdings nicht. Raisa glaubte nicht daran, dass sich diese Haltung im Verlauf der vergangenen fünf Monate geändert hatte. Wenn überhaupt, dann hatte Soja sich eher noch mehr verhärtet. Auf der Fahrt nach Ungarn war Raisa in ihrem Entschluss noch bestärkt worden, als sie gesehen hatte, wie Leo
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