Kolyma
Wettrennen hatte sie einen ganz trockenen Mund und brachte nur wenig Spucke zusammen, aber das machte nichts. Die Umstehenden lachten. Zufrieden wollte Soja nun los. Aber bevor sie sich verziehen konnte, wurde sie hochgehoben und mitten auf Stalins Kopf gesetzt, wo sie nun auf seinem Haarschopf hockte. In der Menge ging eine Diskussion los, dann wurde Soja selbst angesprochen. Sie hatte keine Ahnung, was die Leute sagten, also nickte sie nur. Darauf eilten zwei Männer zum Laster und besprachen sich mit dem Fahrer, während ein dritter ihr eine von den neuen, »angepassten« Ungarn-Fahnen reichte. Der Motor wurde angelassen, und der Laster fuhr langsam los. Die am Boden ruhenden Ketten, die am Heck des Lastwagens und an Stalins Kopf befestigt waren, spannten sich, und dann begann Stalins Kopf sich auch schon in Bewegung zu setzen. Soja umklammerte das aus dem Kopf ragende Fünfzehn-Kilometer-Schild und hielt sich daran fest. Alle Umstehenden redeten jetzt durcheinander. Soja verstand nur, dass sie sie fragten, ob alles in Ordnung sei. Sie nickte. Darauf machten sie dem Fahrer ein Zeichen. Der gab Gas, Stalins Kopf machte einen Satz nach vorn und holperte über die Straßenbahngleise.
Soja überlegte, wie sie verhindern konnte, dass der riesige Kopf sie abwarf. Sie spreizte die Beine und ritt, die Hände um das Straßenschild geklammert, auf Stalins Haartolle. Schließlich wurde sie noch tollkühner und stellte sich hin. Als sie Malyschs besorgtes Gesicht entdeckte, schenkte sie ihm ein beruhigendes Lächeln und winkte ihn herbei, damit er auch aufstieg. Doch er weigerte sich, blieb mit verschränkten Armen zurück und ärgerte sich über ihren Leichtsinn. Soja ignorierte seine verdrießliche Laune und machte Faxen für die Menge. Sie streckte den Arm aus wie eine Kaiserin auf ihrem Streitwagen. Der Laster fuhr mit gleichbleibender Geschwindigkeit und zog Stalins Kopf im Schritttempo hinter sich her, die ungarische Fahne hing schlaff herab und schleifte über den Boden. Soja winkte dem Fahrer - schneller!
Der Laster beschleunigte. Stalins Unterkiefer sprühte Funken, und Sojas Haare wehten im Fahrtwind. Als sie endlich schnell genug waren, fing auch die Fahne zu flattern an und entfaltete sich hinter ihr. In diesem Moment war Soja zum Sinnbild des Widerstands geworden: auf Stalins Kopf reitend, die wehende ungarische Fahne hinter sich. Sie drehte sich um und hoffte, die Bewunderung in den Augen der Menge zu sehen. Vielleicht war ja sogar eine Kamera da, die diesen Augenblick festhielt.
Ihr Publikum hatte sich in Luft aufgelöst.
Am Ende der Jozsef Korut stand ein Panzer, das Kanonenrohr genau auf sie gerichtet. Als er anfuhr, knirschten die Ketten über die Straße. Der Laster bremste, die Ketten zwischen ihm und Stalin fielen leblos zu Boden. Der Kopf blieb so abrupt stehen, dass er nach vorne rollte und mit der Nase auf der Straße aufschlug. Soja wurde hinuntergeschleudert. Benommen und alle viere von sich gestreckt, blieb sie mitten auf dem Platz liegen.
Malysch packte sie. Soja setzte sich auf. Sie konnte nicht richtig atmen und hatte überall Schrammen. Dann sahen sie, dass der Panzer direkt auf sie zugerollt kam, er war höchstens noch zweihundert Meter weit weg. Soja stützte sich auf Malysch und humpelte weg. Auf der Suche nach Deckung liefen sie auf das nächstbeste Geschäft, eine Apotheke zu. Soja blickte sich über die Schulter um. Der Panzer feuerte, sie sah das gelbe Mündungsfeuer und hörte ein Zischen. Die Granate schlug hinter ihnen auf der Straße ein - plötzlich nur noch Rauch, Steinsplitter und Feuerblitze. Soja und Malysch wurden zu Boden geworfen.
Plötzlich tauchte aus der Rauchschwade Stalins riesiger Kopf auf, der hochgeschleudert worden war und nun am Ende seiner Kette wie ein gigantischer Morgenstern auf sie zukam, so als wolle er für seine Schändung Rache nehmen. Im letzten Moment drückte Soja Malysch zu Boden, da sauste der Kopf auch schon über sie hinweg, er verfehlte die beiden mit seinen schartigen Kanten nur um Zentimeter. Im nächsten Moment krachte er ins Schaufenster des Geschäfts und ließ Glassplitter auf sie herabregnen. Der Laster wurde vom Rückstoß der Ketten umgeworfen und rutschte seitlich ein Stück über die Straße. Der Fahrer hing hilflos im Führerhaus.
Noch bevor die beiden sich hochrappeln konnten, tauchte aus dem Qualm der Panzer auf, ein metallisches Monster. Soja und Malysch krochen rückwärts, bis sie an dem zertrümmerten Schaufenster der
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