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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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einfach so hier liegen lassen. Plötzlich bückte sich Frajera neben ihr vor und nahm das tote Mädchen auf die Arme. Malysch half Soja hoch, und beide rannten sie los. Hinter ihnen stoppten die Polizisten ihren Vormarsch und gingen in Stellung.
    Frajera legte das Mädchen auf den Boden. Vor blankem Zorn heulte sie, so als sei sie seine Mutter und würde dieses Kind lieben. Soja blieb etwas abseits stehen, während andere Männer und Frauen, die Frajeras Weinen herbeigelockt hatte, neben dem jungen Opfer niederknieten. War Frajeras Trauer etwa nur ein Schauspiel? Noch bevor Soja weiter darüber nachdenken konnte, zog Frajera eine Waffe und feuerte in die Reihen der Polizisten. Dies war das Zeichen, auf das ihre wory gewartet hatten. Auf beiden Seiten der Gasse zogen sie ihre Waffen und eröffneten das Feuer. Die Polizeiformation löste sich auf, die Männer zogen sich zum Sender zurück und waren sich plötzlich gar nicht mehr sicher, dass sie schon alles unter Kontrolle hatten. Als seien sie auf Safari, waren sie davon ausgegangen, nur sie hätten Gewehre. Jetzt, wo sie selbst angegriffen wurden, zogen sie sich eilig in die Deckung des Senders zurück.
    Soja blieb an der Seite des toten Mädchens und starrte in dessen leblose Augen. Frajera zog sie weg und hielt ihr eine Waffe hin. »Jetzt wird gekämpft.«
    »Ich bin schuld an ihrem Tod«, jammerte Soja.
    Frajera schlug ihr ins Gesicht. »Ich will hier keine Schuldgefühle, sondern Wut. Die da haben sie erschossen. Und was willst du jetzt machen? Heulen wie ein kleines Kind? Dein ganzes Leben lang hast du immer nur geheult. Es wird Zeit, dass du mal was unternimmst.«
    Soja riss die Waffe an sich und stürmte damit auf den Sender zu. Sie zielte auf die Gestalten in den Fenstern und drückte ab. Sechs Mal.

    24. Oktober

    Der Morgen graute schon, und Soja hatte kein Auge zugemacht. Die Müdigkeit hatte ihre Sinne nicht etwa getrübt, sondern sie sogar noch geschärft. Genau beobachteten ihre Augen, was um sie herum vorging. Im Rinnstein neben ihr lagen aus unerfindlichem Grund Hunderte zerbrochener oder angeschlagener Kaffeetassen, kniehoch aufgehäuft wie ein Grabmal. Vor ihr schmauchten die Reste eines Feuers, das aus nichts anderem als aus verkohlten Büchern bestand, in Buchläden geplünderte Texte von Marx und Lenin. Hauchdünne Ascheflöckchen stiegen in den Himmel, so als fiele der Schnee nach oben. Pflastersteine waren aus dem Boden gehebelt und zu Wurfgeschossen umfunktioniert worden, sodass die Straße jetzt aussah, als fehlten ihr Zähne. Es war, als hätte die Stadt selbst hier gekämpft. Und Soja hatte an ihrer Seite gekämpft. Ihre Kleider stanken nach Rauch, ihre Fingernägel waren schwarz, und auf der Zunge hatte sie einen metallischen Geschmack. Die Ohren klingelten ihr. Und unter ihrem Hemd, flach an den Bauch gedrückt, war ihre Waffe.
    Der Radiosender war kurz vor Sonnenaufgang gefallen. Endlich hatten sie es geschafft, die schweren Holztüren aufzubrechen. Der Widerstand drinnen war in dem Maße schwächer geworden, wie die Angreifer draußen aufgerüstet hatten, unter anderem mit den Waffen der Militärakademie, die von den Kadetten abgefeuert wurden. Frajera hatte Soja und Malysch aufgetrieben und ihnen verboten, an der Erstürmung des Gebäudes teilzunehmen. Sie wollte nicht, dass die beiden in eine Schlacht Mann gegen Mann gerieten und in raucherfüllten Räumen gegen verzweifelte AVH-Beamte kämpften, die hinter den Türen lauerten. Stattdessen hatte sie ihnen einen andern Auftrag erteilt.

    Sucht mir Stalin.

    * * *

    Malysch und Soja erreichten das Ende der Gorkii fasor, einer Straße, die zum vdrosliget führe. Entsetzt stellten sie fest, dass das Wahrzeichen dieses größten Parks in der Stadt verschwunden war. Die riesige Stalin-Statue im Zentrum des Heldenparks, ein vier Mann hoher Bronzekoloss mit einem armlangen Schnurrbart, war einfach weg. Der steinerne Sockel stand noch, doch die Skulptur darauf fehlte. Malysch und Soja näherten sich dem geschändeten Monument. Nur zwei bronzene Stiefel waren noch übrig. Der Oberbefehlshaber war etwa in Kniehöhe abgesägt worden. Aus seinem rechten Stiefel ragte noch ein Stahlträger hervor, der Rumpf und der Kopf aber fehlten. Man hatte die Statue exekutiert und die Leiche gestohlen. Zwei Männer waren gerade auf dem Sockel dabei, in Stalins hohlem Stiefel eine der neuen ungarischen Fahnen mit Loch zu befestigen.
    Soja fing an zu lachen. Sie zeigte auf die Stelle, wo früher Stalin gestanden

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