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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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hatte. »Er ist tot! Er ist tot! Der Mistkerl ist tot!«
    Malysch stieß sie an und hielt ihr die Hand vor den Mund. Sie hatte die Worte auf Russisch gerufen. Die zwei Männer auf dem Sockel unterbrachen ihre Arbeit und schauten herüber. Malysch riss die Faust hoch. »Russkik haza!«
    Die Männer nickten halbherzig, und dieser Moment der Ablenkung reichte, dass die Fahne umfiel.
    Malysch zog Soja weg. »Hast du vergessen, wer wir sind?«, flüsterte er.
    Als Antwort küsste Soja ihn auf den Mund - ein schneller Kuss, ohne Überlegung. Bevor er reagieren konnte, hatte sie sich schon wieder von ihm weggedrückt und tat so, als sei nichts geschehen. Sie wies auf die deutlichen Kratzer auf der Straße.
    »In die Richtung haben sie die Leiche gezerrt.«
    Mit klopfendem Herzen marschierte sie los und folgte den Spuren, die die Bronze auf den Pflastersteinen hinterlassen hatte.
    »Sie müssen sie mit einem Laster oder Lieferwagen weggezogen haben.«
    Malysch gab keine Antwort.
    Soja schaffte es nicht länger, unbeteiligt zu tun. »Bist du etwa wütend?«
    Langsam schüttelte er den Kopf. Ihre Wangen begannen zu glühen.
    Sie wechselte das Thema und zeigte auf die Kratzspuren. »Wir laufen um die Wette. Wer zuerst Stalins Leiche findet. Auf drei ...«
    Noch bevor einer eins gesagt hatte, rannten beide in perfekt abgestimmter Schummelei los.
    Malysch gewann zwar einen Vorsprung, aber dann verlor er die Kratzer auf der Straße aus den Augen und musste zurücklaufen. Wie Jagdhunde blieben sie mit gesenkten Köpfen an der ersten Kreuzung stehen und liefen auf der Suche nach dem richtigen Abzweig im Kreis. Soja fand die Spur und flitzte wieder los, Malysch war jetzt hinter ihr. Sie rannten nach Süden und bogen dann in Richtung Blaha-Lujza-Platz ab, eine große Kreuzung, an der viele Geschäfte lagen.
    Weiter vorn sahen sie die Bronzeskulptur, sie lag auf dem Bauch, etwa so lang und breit wie eine Straßenbahn. Beide beschleunigten noch einmal und rannten aus Leibeskräften. Aber Soja hatte ihre Kräfte besser eingeteilt und mehr Reserven. Sie lag jetzt in Führung, allerdings nur knapp. Sie warf sich nach vorn, streckte sich und berührte mit den Fingerspitzen Stalins bronzene Wade. Keuchend und grinsend warf sie einen Blick auf Malysch und musste feststellen, dass der richtig sauer war. Er konnte nicht verlieren und versuchte schon, einen Grund zu finden, warum das Rennen nicht galt.
    Um ihren Sieg zu manifestieren, kletterte Soja auf die Statue. Ihre glatten Schuhsohlen glitten immer wieder auf Stalins glatten Bronzehüften aus, bis sie schließlich ihre Zehen in die nachgebildeten Falten seines Mantels krallte und sich hochdrückte. Als sie jetzt auf ihm stand, sah sie, dass Stalin der Kopf fehlte, der ruppig am Hals abgetrennt war, eine unelegante Enthauptung. Soja balancierte auf seinem Rücken wie eine Seiltänzerin, vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Malysch blieb unten auf der Straße stehen, die Hände in die Hosentaschen versenkt. Sie lächelte ihn an und rechnete damit, dass er rot werden würde, doch stattdessen lächelte er zurück. Vor Glück zersprang ihr fast das Herz in der Brust, und im Geiste schlug sie Rad auf Stalins Wirbelsäule.
    Als sie den bronzenen Hals erreicht hatte, fuhr sie mit den Fingern über die scharfen Kanten, wo man den Kopf offenbar mit einem Schweißbrenner und kräftigen Schlägen abgetrennt hatte. Dann richtete sie sich wieder auf und stemmte die Hände in die Hüften, ganz die Bezwingerin, die den Riesen erschlagen hatte, und inspizierte den Platz. Auf der anderen Seite, wo die Jozsef Korut einmündete, hatte sich eine Gruppe Leute versammelt. Und als sie sich ein wenig verstreuten, sah Soja auch Stalins Kopf. Er ruhte auf seinem schartigen Hals und schien sie anzustarren, selbst verblüfft über seine Verstümmelung. In seiner Stirn klaffte auf Höhe des Haaransatzes ein Loch, aus dem ein Straßenschild ragte: 15 km. Mit dem Laster, der die Statue in diesen Stadtbezirk geschleppt hatte, hatte man auch den Kopf vom Körper getrennt, die Ketten hingen noch daran. Soja kletterte hinab und spähte in Stalins dunkle Eingeweide. Genau wie sie es immer schon vermutet hatte, waren sie hohl, schwarz und kalt. Dann lief sie auf die versammelte Menge zu.
    Malysch holte sie ein und packte sie an der Hand. »Wir sollten lieber umkehren.«
    »Noch nicht.« Soja machte sich los, schritt durch die Menge bis zu Stalins Kopf und spuckte ihm direkt auf sein riesiges, glattes Auge. Nach dem

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