Kolyma
Bahnhöfen.«
Malysch, dessen Vergangenheit hier mit jedem Wort neu erzählt wurde, meldete sich zum ersten Mal selbst zu Wort. »Wie damals, als ich dir im Bahnhof Geld gestohlen habe?«
Frajera nickte. »Ich hatte dich schon länger im Auge. Du solltest aber glauben, wir träfen uns nur zufällig. Schon damals hatte ich vor, dich bei meiner Rache an der Frau einzusetzen, die sich in einen Mann verliebt hatte, den ich hasste. Aber dann bist du mir ans Herz gewachsen, und bald schon sah ich in dir einen Sohn. Also habe ich meine Pläne geändert. Ich wollte dich wie ein eigenes Kind bei mir behalten. Und mit Soja ist es mir genauso gegangen, auch sie habe ich lieb gewonnen und wollte sie bei mir behalten. Heute habt ihr beide diese Liebe mit Füßen getreten. Auf die kleinste Provokation hin hast du ein Messer gegen mich gezogen. Und soll ich dir etwas sagen? Wenn du gesagt hättest, das mache ich nicht, hätte ich euch beide ziehen lassen.«
Frajera wandte sich zur Tür. Dort blieb sie noch einmal stehen und blickte sich zu Leo um. »Du hast dir doch immer eine Familie gewünscht, Leo. Jetzt hast du eine. Viel Spaß damit. Sie ist eine grausamere Rache als alles, was ich mir hätte ausdenken können.«
Am selben Tag
Raisa wandte ihr Gesicht den anderen zu. Vor ihr stand Malysch, die Brust und die Arme übersät mit Tätowierungen. Sein Ausdruck verriet abwartende Wachsamkeit, er hatte sich gegen Ablehnung und Gleichgültigkeit gewappnet.
Als Erste sagte Soja etwas. »Es spielt keine Rolle, ob er dein Sohn ist. Denn eigentlich ist er es nicht, nicht richtig jedenfalls, nicht mehr. Du hast ihn weggegeben, und das heißt, du bist nicht mehr seine Mutter. Und damit ist alles gesagt. Wir sind keine Familie.«
Malysch berührte Raisas Arm. Soja fasste das als Vorwurf auf. »Sie ist nicht deine Mutter, begreif das doch!«
Soja war den Tränen nahe. »Wir können immer noch fliehen.«
Malysch nickte. »Es ist alles beim Alten.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Malysch machte einen Schritt auf Raisa zu, den Blick gesenkt. »Ist mir sowieso egal. Ich will es nur wissen.«
Seine Frage kam schroff, wie die eines Kindes, das seine Verletzlichkeit verbergen will. Er wartete Raisas Antwort gar nicht erst ab, sondern fügte hinzu: »Im Waisenhaus wurde ich Felix genannt. Aber den Namen haben sie mir im Waisenhaus gegeben. Sie haben allen neue Namen gegeben, Namen, die sie sich merken konnten. Wie ich wirklich heiße, weiß ich nicht.«
Malysch zählte an seinen Fingern ab. »Ich bin jetzt vierzehn. Vielleicht auch erst dreizehn. Wann genau ich geboren wurde, weiß ich nicht. Also, bin ich jetzt dein Sohn oder nicht?«
»Kannst du dich noch an irgendwas aus deinem Waisenhaus erinnern?«, fragte Raisa.
»Im Hof stand ein Baum. In dem haben wir oft gespielt. Das Waisenhaus lag in der Nähe von Leningrad, aber nicht in einer Stadt, sondern auf dem Land. War es da? Mit dem Baum im Hof? Hast du da deinen Sohn hingebracht?«
»Ja«, sagte Raisa.
Sie trat näher an Malysch heran. »Was haben sie dir im Waisenhaus über deine Eltern erzählt?«
»Nur, dass sie tot sind. Für mich warst du immer tot.«
Wie um das Thema abzuschließen, fügte Soja hinzu: »Damit ist wohl alles gesagt.«
Soja zog Malysch in die entlegenste Ecke und drückte ihn auf einen Stuhl. Raisa und Leo blieben am Fenster stehen. Leo drang nicht mit Fragen auf Raisa ein, er ließ ihr Zeit.
Schließlich wandte sie ihr Gesicht ab, sodass Malysch es nicht sehen konnte, und flüsterte ihm zu: »Leo, ich habe mein Kind im Stich gelassen. Das ist die größte Schande meines Lebens. Ich habe es dir nie erzählt. Ich wollte nie wieder darüber reden. Tatsächlich aber vergeht kaum ein Tag, ohne dass ich daran denke.«
Leo zögerte. »Ist Malysch ...?«
Raisa sprach noch leiser weiter. »Was Frajera gesagt hat, stimmt zum Teil. Es gab tatsächlich eine Typhus-Epidemie. Viele Kinder sind gestorben. Aber mein Sohn war, als ich zurückgekehrt bin, noch am Leben. Er lag allerdings im Sterben und hat mich gar nicht mehr erkannt. Ich bin bei ihm geblieben, bis er tot war. Dann habe ich ihn selbst begraben. Malysch ist nicht mein Sohn, Leo.«
In Gedanken versunken verschränkte Raisa die Arme. Dann versuchte sie sich zusammenzureimen, was passiert sein mochte: »Frajera ist wahrscheinlich 1953 oder 1954 nach ihrer Freilassung zurückgekommen und hat nach meinem Sohn gesucht. Die Unterlagen müssen das reine Chaos gewesen sein, unmöglich, dass sie die
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