Kolyma
mehr als zwei Stunden konnten sie unmöglich geschlafen haben. Frajera stand draußen am Tor, Soja neben ihr. Alle waren erschöpft, alle außer Frajera, die vor chemischer Energie geradezu sprühte. Sie deutete hinunter ins Stadtzentrum.
»Es heißt, sie haben die verschwundenen AVH-Agenten gefunden. Sie hatten sich die ganze Zeit in der kommunistischen Parteizentrale versteckt.«
Von einem Moment zum nächsten veränderte sich Karolys Gesichtsausdruck. Seine Erschöpfung war wie weggeblasen.
Sie brauchten über eine Stunde, um vom Berg hinabzusteigen, den Fluss zu überqueren und zum Platz der Republik zu gelangen, wo sich die Parteizentrale der Kommunisten befand. Man hörte Schüsse und sah Rauch.
Die Zentrale wurde belagert. Panzer, die in die Hände der Aufständischen gelangt waren, beschossen die Außenmauern. Zwei Lastwagen brannten. Die Fenster waren zersprungen, und große Brocken Beton prasselten zu Boden.
Frajera lief über den Platz und suchte Deckung hinter einer Statue. Von den Dächern wurde geschossen, Kugeln pfiffen ihnen über die Köpfe. Das Kreuzfeuer hinderte sie am Weiterkommen. Urplötzlich hörten die Schüsse auf. Ein Mann mit einer improvisierten weißen Fahne trat aus der Parteizentrale und flehte um sein Leben. Er wurde erschossen. Noch während er zusammenbrach, preschte die erste Reihe der Aufständischen vor und stürmte das Gebäude.
Frajera nutzte die Feuerpause und führte ihre Gruppe über den Platz. Am Eingang versammelte sich neben den schwelenden Lastwagen gerade eine Traube von Rebellen. Frajera schloss sich ihnen an, Leo und die anderen folgten ihr. Unter einem der Lastwagen lagen die verkohlten Leichen von Soldaten. Die Menge wartete darauf, dass ihr die gefangen genommenen AVH-Agenten ausgeliefert wurden. Leo bemerkte, dass nicht alle hier draußen Kämpfer waren. Fotografen und ausländische Presseleute hatten sich daruntergemischt, um ihre Hälse baumelten Kameras. Leo wandte sich zu Karoly um. Eben noch hatte in dessen Gesicht die Hoffnung gestanden, dass er womöglich seinen Sohn wiederfinden würde, doch jetzt war darin nur noch Grauen zu lesen und der Wunsch, dass sein Sohn möglichst weit weg von hier sein möge.
Der erste AVH-Beamte wurde herausgezerrt, es war ein junger Mann. Kaum hatte er die Hände erhoben, wurde er erschossen. Der zweite wurde herausgezogen. Leo verstand nicht, was er sagte, aber es war offensichtlich, dass er um sein Leben flehte. Mitten in seinem Redeschwall wurde auch er erschossen. Ein dritter kam herausgelaufen. Als er seine toten Freunde am Boden liegen sah, versuchte er wieder ins Gebäude zurückzugelangen. Leo sah, dass Karoly einen Schritt nach vorn machte. Dieser junge Mann war sein Sohn.
Wütend, dass der Mann versuchte, der Gerechtigkeit zu entfliehen, packten die Rebellen den Agenten und schlugen auf ihn ein, während er sich noch an die Tür klammerte. Karoly riss sich von Leo los, drängte sich durch die Kämpfer nach vorn und legte schützend die Arme um seinen Sohn. Überrascht über dieses Wiedersehen fing der junge Mann an zu weinen, irgendwie schien er zu hoffen, sein Vater würde ihn beschützen können. Karoly schrie die Menge an. Vater und Sohn blieben nur wenige Sekunden vereint, dann wurde Karoly weggezerrt und zu Boden gedrückt. Er musste mitansehen, wie man seinem Sohn die Uniform vom Leib riss. Die Knöpfe sprangen ab, das Hemd ging in Fetzen. Sie drehten den jungen Mann kopfüber und banden ihm ein Seil um die Fußgelenke, dann schleiften sie ihn zu einem der Bäume auf dem Platz.
Leo wandte sich an Frajera und wollte um das Leben des Jungen bitten, doch da sah er, dass Soja schon an ihrem Arm zerrte.
»Halt sie auf! Bitte!«
Frajera beugte sich zu ihr hinab wie eine Mutter, die einem Kind die Welt erklärt. »Siehst du. Das ist Wut.«
Mit diesen Worten holte Frajera ihre Kamera hervor.
Karoly riss sich los und taumelte kraftlos hinter seinem Sohn her. Er weinte, als er sah, wie man ihn aufknüpfte, wie er kopfüber, aber immer noch lebend vom Baum hing, mit hochrotem Kopf und hervortretenden Adern. Karoly umklammerte seinen Sohn und hob ihn hoch, doch sofort wurde ihm ein Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen. Er kippte nach hinten. Sein Sohn wurde mit Benzin übergossen.
Blitzschnell trat Leo an einen der wory heran, der von der bevorstehenden Hinrichtung abgelenkt war. Mit einem Schlag gegen den Hals raubte er ihm die Luft und nahm ihm das Gewehr ab. Dann stützte er sich auf einem Knie ab und zielte
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