Kolyma
Nervosität, während er darauf wartete, dass Raisa die Wahrheit entdeckte. Seine Lüge hatte ihm nur eine Gnadenfrist verschafft, mehr nicht. Raisa würde sich anhören, was Soja zu dem Vorfall zu sagen hatte.
Er sah auf und stellte zu seiner Überraschung fest, dass Raisa ganz unaufgeregt aus dem Kinderzimmer kam und ohne ein Wort in die Küche ging. Nur Sekunden später erschien Soja und trug ihre Laken ins Badezimmer, wo sie sie in die Badewanne legte und das heiße Wasser anstellte. Sie hatte Raisa nichts gesagt. Sie wollte nicht, dass Raisa etwas erfuhr. Noch mehr als Leo verabscheute sie den Gedanken daran, dass er es geschafft hatte, sie derart zu blamieren.
Leo stand auf, ging in die Küche und fragte: »Wäscht Soja Wäsche?«
Raisa nickte. Leo fuhr fort: »Das muss sie doch nicht. Ich kann sie reinigen lassen.«
Raisa senkte die Stimme. »Ich glaube, ihr ist ein kleines Malheur passiert. Lass sie lieber in Ruhe. In Ordnung?«
Leo nickte. »In Ordnung.«
Elena kam als Erste herein, sie hatte sich die Bluse falsch zugeknöpft. Schweigend setzte sie sich hin. Leo lächelte sie an, aber sie starrte nur in sein freundliches Gesicht, als sei es etwas Unbekanntes und Bedrohliches. Sie lächelte nicht zurück. Leo hörte Sojas Schritte. Dann brachen sie ab. Soja wartete im Flur, wo niemand sie sehen konnte.
Schließlich kam sie herein. Sie starrte Leo, der auf der anderen Seite der Küche saß, direkt ins Gesicht. Dann warf sie Raisa, die den Haferbrei anrührte, einen flüchtigen Blick zu, schließlich ihrer Schwester, die schon frühstückte. Sie verstand, dass er ebenfalls nichts erzählt hatte. Das Messer war ihr Geheimnis. Das vollgepinkelte Bett war ihr Geheimnis. Sie waren Komplizen in dieser falschen Familie. Soja wollte die Familie nicht auseinanderreißen. Ihre Liebe zu Elena war stärker als ihr Hass auf ihn.
Behutsam wie eine Straßenkatze schlich Soja an ihren Platz. Sie frühstückte nicht, sondern warf ihm nur gelegentlich einen verstohlenen Blick zu. Auch Leo aß nichts, rührte nur den Brei in der Schüssel um und konnte nicht aufsehen. Raisa ließ sich nicht beeindrucken. »Wollt ihr etwa beide nichts essen?«
Leo wartete, dass Soja antwortete, doch sie schwieg. Also begann Leo zu essen.
Da stand Soja auf und stellte ihre unberührte Schüssel ins Waschbecken. »Mir ist nicht gut.«
Raisa stand auf und fühlte ihre Temperatur. »Kannst du zur Schule gehen?«
»Ja.«
Die Mädchen verschwanden vom Tisch. Raisa trat ganz nahe an Leo heran. »Was ist denn heute mit dir los?«
Leo war sich sicher, wenn er den Mund aufmachte, würde er anfangen zu heulen. Also sagte er nichts, unter dem Tisch hatte er die Hände zu Fäusten geballt.
Kopfschüttelnd ging Raisa hinaus, um den Kindern zu helfen. Sie wuselten vor der Wohnungstür herum, die letzten Vorbereitungen zum Gehen, dann zogen sie ihre Mäntel an. Die Tür wurde aufgemacht. Raisa kam noch einmal in die Küche zurück, sie hatte ein Päckchen dabei, in braunes Packpapier gewickelt und verschnürt. Sie legte es auf den Tisch und ging. Geräuschvoll fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Minutenlang rührte Leo sich nicht. Dann streckte er zögerlich die Hand aus und zog das Päckchen zu sich heran. Sie wohnten in einer Wohnanlage des Ministeriums, und normalerweise wurde die Post am Tor abgegeben. Dieses Päckchen aber hatte auf der Türschwelle gelegen. Es war etwa dreißig Zentimeter lang, zwanzig breit und zehn hoch. Es trug weder Namen noch Adresse, nur eine Tuschezeichnung, die ein Kruzifix darstellte. Leo riss das Packpapier ab und entdeckte eine Schachtel, auf deren Deckel gestempelt war:
nicht für pressezwecke
Am selben Tag
Der Metro-Waggon war nicht besonders voll, aber trotzdem umklammerte Elena ganz fest Raisas Hand, als hätte sie Angst, sie könnten getrennt werden. Die beiden Mädchen waren ungewöhnlich still. Leos Verhalten heute Morgen hatte sie verstört. Raisa verstand nicht, was über ihn gekommen war. Normalerweise war er in Anwesenheit der Mädchen so behutsam, aber diesmal schien es ihm nichts auszumachen, dass sie sich zum Frühstück hinsetzten und mitbekamen, wie sehr dieses eine Wort ihn beschäftigte: Folter. Als sie ihn gebeten hatte, das Blatt wegzuräumen, war das eigentlich eine Mahnung gewesen, sich zusammenzureißen. Er hatte zwar gehorcht, war aber in genau demselben konfusen Zustand zurückgekehrt, hatte die Mädchen nur angestiert und keinen Ton gesagt. Diese blutunterlaufenen Augen und der
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