Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
wussten, welchen Effekt sie auf ihn haben würde. Aus diesem Grund haben sie sie auch Nikolai und mir zugespielt. Nikolai hat gestern erzählt, dass man ihm Fotos von Leuten zugeschickt hat, die er verhaftet hatte. Und auch Moskwin wurde mit Fotos von Menschen gequält, mit denen er zu tun gehabt hatte.«
    Leo holte den manipulierten Band des Lenin-Textes hervor und hielt das Verhaftungsfoto hoch, das man statt des Leninporträts eingeklebt hatte. »Ich bin sicher, dass die Gemeinsamkeit zwischen uns dreien - zwischen Suren, Nikolai und mir - eine ganz bestimmte Person ist. Jemand, der vor Kurzem freigelassen wurde, oder ein Verwandter eines ...«
    Leo hielt kurz inne, dann beendete er den Satz: »... eines Opfers.«
    »Wie viele Leute haben Sie in Ihrer Zeit als MGB-Beamter verhaftet?«, fragte Panin.
    Leo dachte nach. Manchmal hatte er ganze Familien verhaftet, sechs Leute in einer Nacht. »In den ganzen drei Jahren? Mehrere Hundert.«
    Timur konnte seine Überraschung nicht verbergen. So viele.
    Panin fragte weiter: »Und glauben Sie wirklich, der Täter würde eine Fotografie schicken?«
    »Sie haben keine Angst vor uns, jetzt nicht mehr. Wir sind es, die Angst haben.«
    Panin klatschte in die Hände und trommelte die Beamten zusammen. »Durchsuchen Sie die Wohnung. Wir suchen nach einem Stapel Fotografien.«
    Leo fügte hinzu: »Bestimmt hat Nikolai sie gut versteckt. Es war ihm ungeheuer wichtig, dass seine Familie sie nicht finden konnte. Er war Agent, also wusste er, wie man Sachen sicher versteckt, und auch, wo man als Erstes nachsehen würde.«
    Sie durchsuchten jeden Winkel. Nach zwei Stunden hatten sie die luxuriöse Wohnung, auf deren Möblierung und Ausstattung Nikolai Jahre verwandt hatte, auf den Kopf gestellt. Um unter den Betten suchen und die Dielen herausreißen zu können, hatte man die Leichen der ermordeten Kinder und der Frau in Bettlaken gehüllt und im Wohnzimmer übereinandergestapelt. Um sie herum wurden Schränke zertrümmert und Matratzen aufgerissen. Fotos fand man keine.
    Frustriert starrte Leo auf Nikolai in seinem blutigen Bad hinab. Dann kam ihm ein Gedanke, und er trat an die Wanne heran. Ohne sein Hemd auszuziehen, steckte er den Arm ins Wasser. Er tastete nach Nikolais Hand. Wie ein Schraubstock umschlossen die Finger einen dicken Umschlag. Nikolai hatte ihn im Tode umklammert. Das Papier war aufgeweicht und löste sich auf; sobald Leo es berührte, trieb der Inhalt an die Oberfläche. Timur und Panin kamen hinzu und beobachteten gemeinsam mit Leo, wie eins nach dem anderen die Gesichter von Männern und Frauen vom Grund der Badewanne aufstiegen. Bald war die ganze Oberfläche mit Hunderten sich überlappender Gesichter bedeckt, die im blutroten Wasser auf und ab tanzten. Wie wild schossen Leos Augen zwischen alten Frauen und jungen Männern hin und her, zwischen Müttern und Vätern, Söhnen und Töchtern. Niemand kam ihm bekannt vor. Dann blieb sein Blick an einem Foto haften. Er holte es aus dem Wasser.
    »Kennen Sie diesen Mann?«, fragte Timur.
    Leo kannte ihn. Er hieß Lasar.

Am selben Tag

    Jemand hatte auf den Umschlag ein Kruzifix gezeichnet, das sorgfältig ausgeführte Tuschebild des orthodoxen Kreuzes. Die Zeichnung war klein, etwa handflächengroß. Der Zeichner hatte sich große Mühe gegeben. Die Proportionen stimmten, der Strich war gekonnt. Sollte das Bild etwa Furcht einflößen, so als sei er ein Kobold oder Dämon? Nein, vermutlich war es eher ironisch gemeint, ein Hinweis auf seinen Glauben. Wenn das stimmte, dann hatte der Betreffende sich zumindest psychologisch verschätzt und die beabsichtigte Wirkung verfehlt.
    Krassikow erbrach das Siegel und leerte den Inhalt des Umschlags auf seinen Schreibtisch. Noch mehr Fotos. Krassikow war versucht, sie ins Feuer zu werfen, so wie er es schon mit den anderen gemacht hatte, aber dann trieb ihn doch die Neugier.
    Er setzte die Brille auf, kniff die Augen zusammen und schaute sich den neuen Stapel Gesichter genau an. Auf den ersten Blick sagte ihm keines etwas. Er wollte sie schon beiseitelegen, da erregte eines seine Aufmerksamkeit. Er konzentrierte sich und versuchte, sich an den Namen des Mannes mit diesen intensiven Augen zu erinnern.

    Lasar

    Das hier waren die Priester, die er denunziert hatte. Er zählte sie durch. Dreißig Gesichter. Hatte er tatsächlich so viele verraten? Nicht alle waren während seiner Zeit als Patriarch von Moskau und ganz Russland, der höchsten religiösen Autorität im Land,

Weitere Kostenlose Bücher