Kolyma
verhaftet worden. Er hatte schon vorher denunziert, über viele Jahre hinweg. Er war jetzt fünfundsiebzig Jahre alt. Im Verlauf eines so langen Lebens waren dreißig Denunziationen gar nicht mal so viel. Sein wohlkalkulierter Gehorsam gegenüber dem Staat hatte unermesslichen Schaden von der Kirche abgewendet. Vielleicht war es eine unselige Allianz, aber diese dreißig Priester waren nun einmal notwendige Opfer gewesen. Es war nachlässig von ihm, dass er sich nicht mehr an die Namen erinnern konnte. Eigentlich sollte er jeden Abend für sie beten. Stattdessen waren sie aus seinem Gedächtnis geronnen wie Regenwasser eine Scheibe hinunter. Vergessen war nun einmal einfacher, als um Vergebung zu bitten.
Doch noch nicht einmal als er jetzt ihre Fotografien in der Hand hielt, verspürte er Bedauern. Und das war kein Trotz. Weder litt er unter Alpträumen, noch unter Seelenpein. Sein Gewissen war unbeschwert. Ja, er hatte Chruschtschows Rede gelesen, die ihm wohl dieselben Leute zugestellt hatten, die ihm auch diese Fotos geschickt hatten. Er hatte die Kritik an Stalins mörderischem System gelesen - einem Regime, das er unterstützt hatte, indem er seine Priester anwies, Stalin in ihren Reden zu preisen. Natürlich hatte es einen Kult um den Diktator gegeben, und er war selbst ein loyaler Anbeter gewesen. Na und? Wenn diese Rede eine Zukunft sinnloser Nabelschau einläuten sollte, bitte sehr. Seine Zukunft war es sowieso nicht. War es vielleicht seine Schuld, dass die Kirche in den ersten Jahrzehnten des Kommunismus so verfolgt worden war? Natürlich nicht! Er hatte nur auf die Umstände reagiert, in denen er und seine geliebte Kirche sich befunden hatten. Er hatte doch gar keine Wahl gehabt. Die Entscheidung, ein paar von seinen Mitbrüdern ans Messer zu liefern, war zwar unangenehm, aber nicht schwer gewesen. Einige davon hatten geglaubt, sagen und tun zu können, was ihnen gerade passte, nur weil es das Wort Gottes war. Naive Menschen, die unbedingt Märtyrer sein wollten und ihn damit zunehmend ermüdet hatten. In gewisser Hinsicht hatte er ihnen nur das gegeben, was sie selbst gewollt hatten - die Gelegenheit, für ihren Glauben zu sterben.
Wie alles andere musste auch die Religion Kompromisse eingehen. Der pomestni sobor, die örtliche Bischofsversammlung, hatte ihn als Patriarch vorgeschlagen. Der Staat brauchte jemanden, der politisch dachte, flexibel und gerissen war, deshalb hatte er seiner Nominierung zugestimmt und die Wahlen überhaupt zugelassen, die dann auch prompt zu seinen Gunsten ausgegangen waren. Es hatte Stimmen gegeben, die sagten, mit dieser Wahl werde das Gesetz des apostolischen Kanons verletzt, denn die Hierarchie der Kirche dürfe nicht von weltlichen Autoritäten bestimmt werden. Seiner Meinung nach war das nur ein verworrenes theoretisches Argument, und das in einer Zeit, in der die Anzahl der Kirchen im Land von zwanzigtausend auf weniger als tausend zurückgegangen war. Sollten sie vielleicht allesamt untergehen, indem sie sich stolz an ihre Prinzipien klammerten wie ein Kapitän an den Mast seines sinkenden Schiffes? Seine Ernennung hatte zum Ziel gehabt, den Niedergang umzukehren und sich gegen weitere Verluste zu stemmen. Mit Erfolg. Neue Kirchen waren gebaut worden. Priester wurden jetzt ausgebildet und nicht mehr erschossen. Er hatte nur getan, was man von ihm verlangte. Seine Handlungen waren nie böswillig gewesen. Und die Kirche hatte überlebt.
Krassikow stand auf, er war diese Erinnerungen leid. Er nahm die Fotos und warf sie ins Feuer. Dann sah er zu, wie sie sich aufrollten, schwarz wurden und verbrannten. Er hatte damit gerechnet, dass es zu Vergeltungsaktionen kommen konnte. Man konnte nicht einem so komplexen Gebilde wie der Kirche vorstehen und ihr Verhältnis zum Staat verwalten, ohne sich dabei auch Feinde zu machen. Krassikow war ein vorsichtiger Mensch und hatte Maßnahmen zu seinem Schutz eingeleitet. Als alter, gebrechlicher Mann war er nur noch dem Namen nach der Patriarch und in das Alltagsgeschäft nicht mehr involviert. Stattdessen verbrachte er viel Zeit in einem Kinderhort, den er nicht weit von der Sankt-Anna-Kathedrale gegründet hatte. Manche behaupteten, der Kinderhort sei nichts anderes als das Ringen eines Sterbenden nach Erlösung. Sollten sie doch, ihm war das egal. Die Arbeit bereitete ihm Freude, das war das ganze Geheimnis. Die eigentliche Knochenarbeit wurde von jüngeren Mitarbeitern erledigt, er selbst beschränkte sich auf die seelische
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