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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Begleitung der etwa hundert Kinder, die sie aufnehmen konnten, um sie aus der Abhängigkeit von tschifir, einem aus Teepflanzen gewonnenen Rauschgift, heraus- und in ein frommes Leben zu führen. Da er sein Leben Gott geweiht hatte und das Gelübde ihm eigene Kinder verbot, war dies eine Art Ausgleich.
    Krassikow schloss die Tür zu seinem Büro, sperrte ab und ging die Treppe zum Hauptsaal des Kinderhorts hinab, wo die Kinder ihre Mahlzeiten einnahmen und unterrichtet wurden. Sie hatten vier Schlafsäle, zwei für Mädchen und zwei für Jungen. Daneben gab es einen Gebetsraum mit einem Kruzifix, Ikonen und Kerzen - hier unterrichtete er die Kinder in Glaubensdingen. Keines durfte im Hort bleiben, wenn es sich nicht Gott öffnete. Wer sich weigerte zu glauben, wurde ausgeschlossen. An Straßenkindern, derer man sich annehmen konnte, gab es keinen Mangel. Nach staatlichen Schätzungen, in die er eingeweiht war, existierten über das ganze Land verteilt etwa achthunderttausend obdachlose Kinder, die meisten davon in den größeren Städten. Sie lebten in Bahnhöfen und schliefen in schmalen Gassen. Manche waren aus Waisenhäusern weggelaufen, andere aus Arbeitslagern. Viele waren vom Land in die Städte gekommen, wo sie wie Rudel wilder Hunde überlebten, indem sie den Abfall durchwühlten oder stahlen. Krassikow neigte nicht zur Gefühlsduselei. Ihm war klar, dass diese Kinder unzuverlässig und potenziell gefährlich waren. Deshalb bediente er sich der Dienste ehemaliger Soldaten der Roten Armee, um sie unter Kuratel zu halten. Der Gebäudekomplex war gesichert. Niemand konnte unerlaubt hinein oder hinaus. Jeder, der hineinwollte, wurde durchsucht. Drinnen gab es Wärter, zwei waren stets am Eingang postiert, die anderen machten die Runde. Offiziell waren die Männer dafür da, die Kinder unter Kontrolle zu halten. Doch sie versahen noch einen weiteren Dienst: Sie waren Krassikows Leibwächter.
    Krassikow warf einen prüfenden Blick durch den Saal und suchte die dankbaren Gesichter nach seinem neuesten Ankömmling ab, einem vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alten Jungen. Er hatte sein Alter nicht verraten und überhaupt kaum den Mund aufgemacht. Der Junge stotterte ganz fürchterlich und hatte ein seltsam erwachsenes Gesicht, so als sei er mit jedem Jahr auf Erden um drei Jahre gealtert. Es wurde Zeit, dass man ihm die Aufnahmebedingungen klarmachte und prüfte, ob er es mit seinem Bekenntnis zu Gott ernst meinte.
    Krassikow gab einem der Wärter ein Zeichen, das Kind zu ihm zu bringen. Der Junge scheute zurück wie ein geprügelter Hund, jeder menschliche Kontakt machte ihn misstrauisch. Man hatte ihn nicht weit vom Kinderheim entfernt in einer Einfahrt gefunden, eingehüllt in Lumpen. Er hatte eine Tonfigur umklammert, die einen auf einem Schwein reitenden Mann darstellte, so als sei das Schwein ein Pferd. Drolliger Nippes, was darauf schließen ließ, dass er aus der Provinz kam. Die einst farbenfrohe Figur war mittlerweile verblasst. Bemerkenswerterweise war sie aber noch heil, nur das linke Ohr des Schweins fehlte. Der drahtige, kräftige Junge ließ sie keinen Augenblick aus den Augen und ließ sie vor allem nicht los. Sie hatte wohl irgendeinen sentimentalen Wert für ihn, vielleicht ein Gegenstand aus seiner Vergangenheit.
    Krassikow lächelte den Wärter an und bat ihn freundlich zu gehen. Dann öffnete er die Tür zum Gebetsraum und wartete darauf, dass der Junge ihm folgte. Doch der Bursche rührte sich nicht und hielt nur die angemalte Figur umklammert, als sei sie voller Gold.
    »Du musst nichts tun, was du nicht willst. Aber wenn du Gott nicht in dein Herz lässt, kannst du hier nicht bleiben.«
    Der Junge warf einen verstohlenen Blick auf die anderen Kinder. Sie hatten alles stehen und liegen lassen und glotzten neugierig, wie er sich entscheiden würde. Noch nie hatte einer Nein gesagt. Zögerlich betrat der Junge den Gebetsraum. Als er an Krassikow vorbeikam, sagte dieser: »Verrat mir doch noch mal deinen Namen.«
    Der Junge stammelte: »Ser ... gej.«
    Krassikow schloss die Tür hinter ihnen beiden. Der Raum war vorbereitet, die Kerzen brannten. Das Licht des Nachmittags verblasste. Krassikow kniete sich vor das Kruzifix, gab Sergej aber keine Anweisungen, sondern wartete darauf, dass der Junge es ihm nachtat. Eine einfache Probe, um herauszufinden, ob das Kind irgendein religiöses Fundament hatte. Diejenigen, die sich auskannten, knieten sich neben ihn, die anderen blieben an der Tür

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