Kolyma
wie ein gescholtener Hund. Eine Hand umklammerte sein Kinn und zwang ihn aufzuschauen. Das Gesicht des Kommandanten war durchzogen von tiefen dunklen Linien, eine Haut wie Räucherfleisch. In seinen Pupillen blitzte es jodfarben. Leo war ein kapitaler Fehler unterlaufen: Er war aufgefallen. Eine weitverbreitete Methode, den Häftlingen zu zeigen, was sie erwartete, war, gleich nach der Ankunft an einem von ihnen ein Exempel zu statuieren. »Warum siehst du weg?«
Es war mucksmäuschenstill. Leo spürte förmlich die Erleichterung der anderen Gefangen, wie Wärme verströmten sie sie. Ihn hatte es erwischt, nicht sie. Sinjawskis Stimme war auffallend leise. »Antworte.«
»Ich wollte Sie nicht beleidigen«, sagte Leo.
Sinjawski ließ Leos Kinn los, trat einen Schritt zurück und griff in seine Tasche.
Leo hatte als Nächstes die Mündung einer Pistole erwartet und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was er sah. Sinjawskis Arm war zwar tatsächlich ausgestreckt, aber die Handfläche wies nach oben und hielt ihm drei kleine, purpurrote Blümchen hin, keine größer als ein Hemdknopf. Leo fragte sich, ob er gerade den irren Augenblick erlebte, wo die Kugel in sein Hirn drang, ein Wirrwarr von Bildern und Erinnerungen. Aber nach einigen Augenblicken flatterten die zarten Blütenblätter immer noch im Wind. Das hier war real.
»Nimm eine.«
War es ein Gift? Sollte er sich im Angesicht der anderen vor Schmerzen winden? Leo rührte sich nicht und hielt die Arme streng an die Hosennaht gelegt.
»Nimm eine.«
Was sollte er machen? Also streckte Leo gehorsam die Hand aus. Wie die Beine eines Betrunkenen torkelten sein Daumen und sein Zeigefinger unsicher auf Sinjawskis Handflächen herum, beinahe hätte er die Blüten heruntergestoßen. Schließlich erwischte er eine. Sie war getrocknet, die Blättchen brüchig.
»Riech dran.«
Wieder rührte Leo sich nicht, er verstand nicht, was der andere von ihm wollte.
Der wiederholte seine Anweisung. »Du sollst dran riechen.«
Leo hob die Blüte an seine Nase und beschnüffelte sie, roch aber gar nichts.
Sinjawski lächelte. »Riecht gut, oder?«
Leo dachte nach. War das eine Falle? »Ja.«
»Gefällt es dir?«
»Gefällt mir sehr.«
Der Mann klopfte Leo auf die Schulter. »Du wirst ein Gärtner sein. Die Landschaft hier sieht zwar unfruchtbar aus, aber sie steckt voller Möglichkeiten. Es gibt nur zwanzig Wochen im Jahr, wo die Erdoberfläche geschmolzen ist. In dieser Zeit erlaube ich allen Gefangenen, das Land zu kultivieren. Du kannst anbauen, was immer du willst. Die meisten ziehen Gemüse. Aber die Blumen, die hier wachsen, sind sehr schön, auf ihre einfache Art. Einfache Blumen sind oft die schönsten, findest du nicht auch?«
»Doch.«
»Glaubst du, dass du Blumen ziehen wirst? Ich will dir nichts vorschreiben. Du kannst auch was anderes machen.«
»Blumen ... sind ... schön.«
»In der Tat. Sie sind schön. Und einfache Blumen sind die schönsten.«
Der Kommandant lehnte sich nahe zu Leo heran und flüsterte: »Ich reserviere dir ein schönes Stückchen Land. Bleibt unser Geheimnis.«
Herzlich drückte er Leos Arm.
Sinjawski ging zurück und richtete seine Worte jetzt an die aufgereihten Gefangenen. Dabei zeigte er ihnen die auf seiner ausgestreckten Hand liegenden purpurnen Blüten. »Nehmt eine.«
Die Häftlinge zögerten.
Er wiederholte seinen Befehl. »Nehmt eine!«
Verärgert über ihr Zaudern schleuderte er die Blüten in die Luft, sodass die rotblauen Blättchen ihnen um die kahl geschorenen Köpfe flogen. Dann holte er noch eine Handvoll aus seiner Tasche und warf sie ihnen ebenfalls entgegen, immer wieder. Einige Männer sahen auf, Blütenblättchen in den Wimpern. Andere blickten weiter zu Boden, ohne Zweifel überzeugt, dass das hier ein ganz besonders ausgekochter Trick war, auf den nur sie nicht hereingefallen waren.
Leo hielt immer noch die Blume in der gekrümmten Handfläche. Er begriff es nicht, konnte sich keinen Reim auf die Sache machen. Hatte er die falsche Akte gelesen? Dieser Mann da mit den Taschen voller Blumen konnte doch nicht der sein, der Häftlingen noch befohlen hatte weiterzuarbeiten, während die Leichen der Kameraden neben ihnen schon verfaulten. Nicht derselbe, der den Bau des Fergana-Kanals und der Ob-Eisenbahn überwacht hatte.
Als er alle seine Blüten verpulvert hatte und die letzten Blättchen in den Schnee trudelten, setzte Sinjawski seine Einführungsrede fort. »Diese Blumen stammen aus der
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