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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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macht dich stark.«
    Leo hob die Tasse und nippte an der dicken schwarzen Brühe. Sie schmeckte entsetzlich bitter und legte sich wie Teer über seine Schleimhäute. Am liebsten hätte er sie ausgespuckt. Doch dann schloss er die Augen und schluckte widerwillig.
    Als er die Augen wieder aufmachte, sah er, wie Lasar gerade seinen Auftrag beendete und ohne Hast wieder zu den Baracken zurücktrottete. Selbst als er an ihm vorbeikam, warf er ihm keinen Blick zu, zeigte nicht das geringste Zeichen von Erregung. Kommandant Sinjawski sprach noch eine Weile weiter, aber Leo hörte nicht mehr zu. Die getrocknete, purpurne Blüte in seiner geballten Faust hatte er zu Staub zermahlen. Der Häftling neben ihm zischte ihm zu: »Pass auf. Es geht weiter.«
    Erst jetzt registrierte Leo, dass der Kommandant aufgehört hatte zu reden. Die Einführung war vorbei, und die Häftlinge wurden aus der Verwaltungszone in die Sträflingszone abgeführt. Leo befand sich fast am Ende der Kolonne. Sein Herz raste. Der Abend war hereingebrochen, der Horizont erloschen. In den Wachtürmen flackerten Lichter auf. Aber keine mächtigen Scheinwerfer suchten den Boden ab. Außer einem matten Schein aus den Fenstern der Hütten war die Zone stockfinster.
    Sie kamen durch die zweite Stacheldrahtabsperrung. Die Wärter blieben an der Grenze zwischen den beiden Zonen zurück, die Gewehre entsichert und im Anschlag. Kein Beamter betrat bei Nacht diese Zone, es war zu gefährlich. Leicht hätte ein Sträfling ihm den Schädel einschlagen und wieder verschwinden können. Den Wärtern war es lediglich darum zu tun, die Absperrung zu überwachen und die Sträflinge eingesperrt zu halten. Die da drinnen waren sich selbst überlassen.
    Leo war der Letzte, der die Baracke betrat - Lasars Baracke. Er würde allein mit ihm fertig werden müssen, ohne Timur. Er würde vernünftig mit ihm reden, ihm alles erklären. Schließlich war der Mann ein Priester, er würde sich seine Beichte schon anhören. Leo hatte viel zu berichten. Er hatte sich geändert. Seit drei Jahren bemühte er sich nun schon um Wiedergutmachung. Wie ein Mann auf dem Weg zu seiner Hinrichtung stieg er mit schweren Beinen die Treppe hoch. Er drückte die Tür auf, holte tief Luft, atmete den Gestank der überfüllten Baracke ein und blickte in eine Kulisse aus hasserfüllten Gesichtern.

    Am selben Tag

    Leo war bewusstlos gewesen. Als er wieder zu sich kam, fand er sich auf dem Fußboden wieder, jemand zerrte an seinen Fußgelenken, und eine Horde Gefangener trat auf ihn ein. Als er mit den Fingern seinen Schädel betastete, fühlte er klebriges Blut. Er konnte sich nicht konzentrieren, konnte nicht kämpfen, hilflos lag er im Epizentrum dieser Wut. Lange würde er das nicht überleben. Ein Spuckebatzen traf ihn ins Auge, ein Stiefel seitlich am Kopf. Er knallte mit dem Kinn auf den Boden, seine Kiefer schlugen aufeinander. Doch urplötzlich verebbte das Spucken und Treten und Schreien, einmütig zog sich die Meute zurück und ließ ihn keuchend da liegen wie einen, der in einen Wirbelsturm geraten war. Eben noch rasender Hass und jetzt plötzlich Stille. Jemand musste ihnen Einhalt geboten haben.
    Leo blieb liegen, wo er war, weil er fürchtete, dass diese kostbaren Momente der Ruhe vorbei sein würden, sobald er aufzublicken wagte.
    »Aufstehen!«, rief eine Stimme. Es war nicht Lasars, sondern die eines jüngeren Mannes. Leo rollte sich aus seiner Fötusstellung und warf einen verstohlenen Blick auf die Männer, die da vor ihm aufragten. Es waren zwei, Lasar und neben ihm ein vielleicht dreißig Jahre alter Mann mit roten Haaren und rotem Bart.
    Leo wischte sich die Spucke vom Gesicht und das Blut von den Lippen und der Nase. Dann setzte er sich mühsam auf. An die zweihundert Gefangenen beobachteten ihn. Einige hockten auf ihren Kojen, andere standen in der Nähe, so als sei dies eine Theateraufführung mit schlechteren und besseren Plätzen. Die Neuankömmlinge hatten sich in eine Ecke zurückgezogen, erleichtert, dass die Aufmerksamkeit nicht ihnen galt.
    Leo rappelte sich hoch, vorgebeugt wie ein Krüppel stand er da. Lasar trat auf ihn zu, ging um ihn herum und musterte ihn dabei. Dann stellte er sich direkt vor Leo hin, Auge in Auge. Sein Blick flackerte vor aufgestauter Energie, die straffe Haut zitterte. Langsam öffnete er den Mund und schloss dabei die Augen, offensichtlich litt er unsägliche Schmerzen. Das Wort, das er sprach, war eigentlich nur ein Flüstern, ein Lufthauch, der

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