Kolyma
ein kaum hörbares Geräusch mit sich trug: »Max...im.«
Alles, was Leo hatte sagen wollen, die Geschichte, dass er sich geändert hatte, das Gerede über seine Erleuchtung, das Luftschloss seiner Transformation schmolz dahin wie Schnee auf heißen Kohlen. Er hatte sich immer damit getröstet, dass er ein besserer Mensch war als die meisten Agenten, mit denen er zusammengearbeitet hatte. Männer, die sich ein vollständiges neues Gebiss aus dem Gold anfertigen ließen, das aus den Mündern der verhörten Verdächtigen stammte. Er war beileibe nicht der Schlimmste gewesen. Er war höchstens in der Mitte, vielleicht auch noch weiter unten, verborgen im Schatten der Unmenschen, die über ihm gemordet hatten. Er hatte Unrecht begangen, aber doch kein so gravierendes. Wenn er ein Schuft war, dann höchstens ein durchschnittlicher. Als er jetzt diesen Namen hörte, den Decknamen, den er sich selbst ausgesucht hatte, fing er an zu weinen. Er versuchte aufzuhören, aber es gelang ihm nicht, die Tränen strömten weiter über seine Wangen. Lasar streckte die Hand aus, berührte eine seiner Tränen und sammelte sie mit seiner Fingerkuppe auf. Er begutachtete sie eine Weile, dann setzte er sie wieder genau dort ab, wo er sie hergenommen hatte. Fest presste er seinen Finger gegen Leos Wange und zerrieb die Träne verächtlich, so als wolle er sagen:
Behalt deine Tränen. Die zählen nicht.
Lasar nahm Leos Hand, deren Innenseite noch verschorft war von der Jagd durch die Kanalisation, und legte sie auf seine linke Gesichtshälfte. Die Wange fühlte sich uneben an, so als hätte Lasar den Mund voller Kieselsteine. Als er den Mund jetzt wieder öffnete, zuckte er vor Schmerz zusammen und schloss die Augen. Als Erstes schlug Leo der Fäulnisgestank in die Nase, der Geruch nach verrotteten, kranken Zähnen. Dann erst sah er es: Viele Zähne fehlten ganz. Der Gaumen war deformiert, er sah schwarze Reihen mit fleckigen, blutigen Stümpfen. Anders als seine eigene war Lasars Veränderung eine Transformation, die den Namen auch tatsächlich verdiente. Aus dem brillanten Rhetoriker, der dreißig Jahre lang Reden und Predigten gehalten hatte, war im Gulag ein übel riechender Stummer geworden.
Lasar schloss den Mund und machte einen Schritt zurück. Der Rothaarige trat neben ihn und hielt ihm die Wange wie zum Kuss hin. Lasar lehnte sich so nah zu ihm heran, dass seine Lippen beinahe das Ohr des Mannes berührten. Beim Sprechen schienen sie sich kaum zu bewegen. Als er geendet hatte, ließ er den Rothaarigen für sich sprechen.
»Ich habe dich behandelt wie einen Sohn. Ich habe dir mein Heim geöffnet. Ich habe dir vertraut. Dich geliebt.« Der Rothaarige übersetzte nicht in der dritten Person, sondern sprach so, als sei er Lasar selbst. Leo antwortete.
»Lasar, es gibt nichts, womit ich mich verteidigen könnte. Dennoch bitte ich Sie, mich anzuhören. Ihre Frau lebt. Sie hat mich geschickt, um Sie zu befreien.«
Leo und Timur hatten darüber spekuliert, ob man Lasar wohl schon einen verschlüsselten Brief mit Frajeras Plänen hatte zukommen lassen. Doch seine Überraschung war echt. Er wusste nichts über seine Frau. Er hatte keine Ahnung, wie sehr sie sich verändert hatte. Wütend gab er dem Rothaarigen ein Zeichen, der daraufhin vortrat und Leo so fest trat, dass dieser in die Knie ging. Dabei zischte er: »Du lügst!«
Leo wandte sich erneut an Lasar. »Ihre Frau lebt. Sie ist der Grund, warum ich hier bin. Das ist die Wahrheit.«
Der Rothaarige warf einen Blick über die Schulter und wartete auf Anweisungen. Lasar schüttelte den Kopf. Der Mann nahm das als Signal und übersetzte.
»Was weißt du denn von der Wahrheit? Du bist ein Tschekist. Dir darf man kein Wort glauben.«
»Anisja wurde vor drei Jahren aus dem Gulag entlassen, Lasar. Sie hat sich vollkommen verändert und gehört jetzt zu den wory.«
Mehrere der wory, die das Schauspiel verfolgten, lachten angesichts der Vorstellung, dass die Frau eines regimekritischen Priesters bei ihnen angeheuert haben sollte.
Leo ließ sich nicht beirren. »Sie gehört nicht nur zu den wory, sondern ist sogar eine Anführerin. Den Namen Anisja hat sie abgelegt, ihr klikucba ist Frajera.«
Das ungläubige Gezeter wurde immer lauter. Brüllend drängten einige Männer nach vorn, die allein schon den Gedanken, eine Frau könne sie anführen, als Affront empfanden.
Leo rief lauter, um den Lärm zu übertönen. »Sie hat ihre eigene Bande, die sich auf Rache eingeschworen hat.
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