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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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eine solche Situation war Timurs Anwesenheit so wichtig. Sie hatten einkalkuliert, dass das Zusammentreffen gewalttätig verlaufen konnte. Mehr noch, es war sogar Teil ihres Plans. Als Wärter würde Timur einschreiten und jede Auseinandersetzung unterbinden können. Vorschriftsgemäß würde man Leo und Lasar voneinander trennen und anschließend in den Isolationstrakt sperren, in benachbarte Einzelzellen. Dort würde Leo dann Gelegenheit haben, Lasar zu erklären, dass er gekommen war, um ihn zu befreien, dass seine Frau lebte und dass er auf keinen Fall jemals auf regulärem Weg würde entlassen werden. Entweder nahm er Leos Hilfe an, oder er würde als Sklave sterben.
    Leo fuhr sich mit seinen eiskalten Fingern über den frischgeschorenen Schädel. Verzweifelt entwarf er einen Notplan. Es gab nur eine Lösung: Er würde die Begegnung mit Lasar hinauszögern müssen, bis Timur auftauchte. Sich zu verbergen würde nicht einfach sein. Seit Stalins Tod war der Gulag 57 sowohl in der Zahl seiner Gefangenen als auch in seiner räumlichen Ausdehnung geschrumpft. Zuvor hatte er aus einer Vielzahl von über den Berghang verstreuten lagpunkty bestanden, Unterkolonien des Lagers. Einige hatten in so schroffem Gelände und an so unergiebigen Minen gelegen, dass ihr Zweck eigentlich nur der Tod sein konnte. All diese kleineren Baracken von Gulag 57 waren mittlerweile geschlossen, und das einstige Gefängnisimperium beschränkte sich nur mehr auf das Hauptlager am Fuß des Berges, den einzigen Ort, wo die Goldmine überhaupt je einigermaßen ertragreich gewesen war. Und nach dem, was Leo auf den Lagerplänen gesehen hatte, war selbst von diesem Terrain nur wenig übrig geblieben. Die »Zone«, der überwachte Bereich, war rechteckig angelegt, obwohl dem Gelände ein kurviger Grundriss eher entsprochen hätte. Aber es war ein ehernes Gesetz, dass die Zone nun einmal rechteckig zu sein hatte. Etwas Rundes gab es in einem Gulag nicht, wenn man einmal vom Stacheldraht absah, der sich um sechs Meter hohe Pfosten ringelte, die zwei Meter tief in die Erde eingegraben waren und die äußere Eingrenzung des Lagers darstellten. Im Innern dieses Zauns befanden sich mehrere Schlafbaracken und eine Kantinenbaracke, von denen wiederum der in der Lagermitte liegende Verwaltungstrakt durch ein inneres Stacheldraht-Rechteck abgeschirmt wurde. Sektoren innerhalb von Sektoren, Zonen innerhalb von Zonen. Für die Sicherheit sorgten neben Schutzwällen aus Baumstämmen sechs kleinere Beobachtungstürme sowie zwei mächtige wachta-Türme zu beiden Seiten des Haupttors, die beide mit schweren Maschinengewehren auf Lafetten bewaffnet waren. Zudem befanden sich in jeder Ecke der Zone kleinere Türme, von denen aus Wachbeamte das Lager durch Fernrohre beobachteten. Und selbst wenn die Wachen einschliefen oder betrunken in der Ecke lagen, spielte das keine Rolle, denn um in die Freiheit zu gelangen, musste man zunächst über den Berg klettern oder kilometerweit die ungeschützte Hochebene durchqueren.
    Bei seiner Ankunft würde man Leo in die innere Gefangenenzone treiben. Da es drei Baracken gab, bestand zumindest die theoretische Chance, dass er noch weitere vierundzwanzig Stunden unentdeckt blieb. Vielleicht gab das Timur ausreichend Zeit hinterherzukommen.
    Der Lastwagen wurde langsamer. Vorsichtig, damit ihn nicht etwa ein übereifriger Scharfschütze auf dem wachta abschoss, spähte Leo hinaus auf den Berg. Die Hänge waren gefährlich steil. Vor dem kolossalen Bergmassiv sahen die Mine und die paar Gräben und künstlich angelegten Bäche, in denen die Erdklumpen gewaschen und nach Gold durchsiebt wurden, geradezu lächerlich klein aus.
    Oben auf den zwei wachta bemerkte er Schatten, es waren Posten, die die Neuankömmlinge im Auge behielten. Die Türme waren fünfzehn Meter hoch und wurden über eine Reihe wackeliger Leitern erklommen, die man jederzeit hochziehen konnte. Die Tore zwischen den Türmen wurden von Hand geöffnet. Wachposten drückten die schweren Holztore auf und schoben sie durch den Schnee. Die Lastwagen fuhren auf das Lagergelände. Von der Ladefläche aus sah Leo, wie die Tore hinter ihnen geschlossen wurden.

    Am selben Tag

    Leo kletterte von der Ladefläche und wurde von den Wärtern ans Ende einer Längsreihe geführt. Nebeneinander standen die Sträflinge zitternd da und warteten auf die Inspektion. Da er keinen Schal und nur eine zu kleine Mütze besaß, hatte Leo sich Lappen in den Jackenkragen gesteckt, um sich gegen

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