Kolyma
gemacht, um sicherzustellen, dass keiner der Gefangenen vom Wagen sprang und flüchtete. Hier konnte man nirgendwohin entfliehen.
Plötzlich wurde die Straße steiler, und das Heck des Lasters neigte sich so beängstigend ins schneebedeckte Tal hinab, dass Leo sich an der Stahlreling festhalten musste. Die anderen Gefangenen rutschten nach unten und wurden gegen ihn gedrückt. Der Lastwagen schaffte die Steigung nicht und blieb hin- und herwippend stecken, gleich würde er zurückrollen. Die Handbremse wurde angezogen, der Motor ging aus. Die Wachen öffneten die hintere Luke, und die Gefangenen purzelten auf die Straße.
»Marschieren!«
Die ersten beiden Lastwagen hatten es über den Kamm geschafft und waren nicht mehr zu sehen. Der letzte ließ nun ohne das Gewicht der Sträflinge den Motor an und fuhr den Hang hinauf. Die Zurückgelassenen quälten sich bergan und keuchten dabei wie alte Männer, hinter sich die Wärter mit den Gewehren im Anschlag. Vor dem Hintergrund der Landschaft wirkte das wichtigtuerische Gehabe der Wachmänner so bedeutungslos und lächerlich wie Insektengekrabbel. Leo beobachtete sie mit den Augen eines Gefangenen und konnte nur darüber staunen, wie wichtig sie sich offensichtlich vorkamen. Wie Viehtreiber. Am liebsten hätte er ihnen, nur um ihre Überraschung zu sehen, zugerufen:
Ich bin einer von euch!
Im nächsten Moment fragte er sich, ob er wirklich einer von denen war? So selbstgefällig, so eingelullt von der eigenen Macht, von der Geltung, die der Staat einem verliehen hatte. Auf jeden Fall war er früher so einer gewesen.
Oben auf dem Kamm wurde es flacher. Leo blieb stehen, atmete durch und inspizierte das vor ihm liegende Gelände, während kalter Wind an ihm zerrte und ihm Tränen in die Augen trieb. Was er sah, war eine Mondlandschaft, eine riesige Hochebene, groß wie eine Stadt, geglättet vom Eis und vom Permafrost und übersät mit Kratern. Die einsame Landstraße schnitt in einer ungefähren Diagonalen hindurch und wand sich dann den bislang höchsten Berg hinauf. Wie ein gewaltiger Kamelhöcker erhob er sich aus dem Plateau. Irgendwo an seinem Fuß lag der Gulag 57.
Während die Sträflinge zurück auf den Laster kletterten, warf Leo einen Blick auf die anderen beiden Fahrzeuge. Er musste sich der Tatsache stellen, dass Timur sich nicht im Konvoi befand. Niemals wäre sein Freund in einen der Lastwagen gestiegen, ohne Kontakt mit ihm aufzunehmen, selbst wenn es nur ein flüchtiger Blick in der Menge gewesen wäre. Seit gestern, als er an Deck der Stary Bolschewik an ihm vorbeigelaufen war, hatte Leo ihn nicht mehr gesehen. Danach hatte man Leo ins Durchgangslager von Magadan abgeführt, wo er entlaust und von einem Arzt untersucht worden war. Der hatte ihn als voll tauglich eingestuft und der TFT zugeteilt, der Tjascholy Fisitscheski Trud oder Schwerstarbeiterkolonne, für deren Arbeit es keinerlei Beschränkungen gab. Danach hatte Leo in einem der großen Zelte gewartet, die man für die Neuankömmlinge aufgebaut hatte. Mit den Hunderten zusammengezwängter Liegen hatte es ihn an die Behelfslazarette im Großen Vaterländischen Krieg erinnert. Eigentlich war ausgemacht gewesen, dass Timur und er am Abend zusammentreffen sollten. Als Timur nicht erschienen war, hatte Leo sich mit allen möglichen Erklärungen beruhigt. Es hatte eben eine Verzögerung gegeben, morgen früh würden sie sich schon begegnen. Sich nach ihm zu erkundigen war zu riskant, nicht nur, weil ihre Tarnung auffliegen konnte, man hätte Leo für einen Informanten halten können. Weil er keinen Schlaf gefunden hatte, war er früh aufgestanden in der Hoffnung, seinen Freund zu finden. Als sie auf die Lastwagen verfrachtet worden waren, hatte Leo bis zum letzten Moment gewartet. Mittlerweile fielen ihm beruhigende Erklärungen für Timurs Abwesenheit schon schwerer.
Zum ersten Mal nach sieben Jahren würde Leo wieder auf Lasar treffen. Ihre erste Begegnung, der Augenblick, wo sie einander entdeckten, war möglicherweise der gefährlichste Moment der ganzen Mission. Darauf, dass Lasars Hass sich mit der Zeit gelegt hatte, brauchte Leo nicht zu hoffen. Wenn er ihn nicht auf der Stelle umzubringen versuchte, würde Lasar auf jeden Fall verbreiten, dass Leo ein Tschekist war, ein Mann, der für die Einkerkerung von Hunderten unschuldiger Männer und Frauen verantwortlich war. Wie lange würde Leo dann wohl noch zu leben haben, umgeben von Leuten, die man gefoltert und verhört hatte? Genau für
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