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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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schlimmsten, unbarmherzigsten Erde der Welt. Aus dem Hässlichen erwächst das Schöne. Daran glauben wir hier. Ihr seid nicht hier, weil ihr leiden sollt. Ihr seid hier, um zu arbeiten, genau wie ich. Wir sind gar nicht so verschieden, ihr und ich. Na schön, wir verrichten unterschiedliche Arbeiten. Und vielleicht ist eure Arbeit härter. Aber trotzdem werden wir zusammenarbeiten, für unser Land. Wir werden an uns arbeiten. Wir werden zu besseren Menschen werden, genau hier, an diesem Ort, wo niemand irgendetwas Gutes zu finden glaubt. Wir werden es allen beweisen. Ihr und ich.«
    Seine Worte schienen aus tiefstem Herzen zu kommen und einem ehrlichen Gefühl zu entspringen. Ob Sinjawski nun die eigene Schuld oder Reue quälte oder die Angst, von den neu en Machthabern vor Gericht gestellt zu werden, auf jeden Fall war ziemlich klar, dass der Kommandant den Verstand verloren hatte.
    Sinjawski gab den Wärtern ein Zeichen. Einer rannte daraufhin zur Offiziersbaracke und kam nur Augenblicke später mit mehreren Häftlingen wieder heraus, von denen jeder eine Flasche und ein Tablett mit kleinen Blechnäpfen trug. Sie gossen eine dickflüssige dunkle Flüssigkeit in die Becher und boten sie allen Gefangenen an.
    Sinjawski erklärte. »Dieses Getränk, chwoja genannt, ist eine Mischung aus dem Extrakt der chwoja -Nadel und Rosenwasser. Beide enthalten viele Vitamine. Sie halten euch bei guter Gesundheit. Wenn ihr gesund seid, seid ihr produktiv. Hier werdet ihr ein produktiveres Leben führen als früher, außerhalb des Lagers. Meine Aufgabe ist es, euch dabei zu helfen, dass ihr zu produktiveren Bürgern heranreift. Und indem ich das tue, werde auch ich zu einem produktiveren Bürger. Euer Wohl ist auch mein Wohl. Wenn ihr Fortschritte macht, tue ich das auch.«
    Leo hatte sich nicht gerührt, er stand noch genauso da wie zuvor. Seine Hand war immer noch ausgestreckt. Eine Brise erfasste die Blüte und wehte sie zu Boden. Er bückte sich und hob sie auf. Als er sich wieder aufrichtete, sah er, dass der Häftling mit dem Pinienextrakt bei ihm angekommen war. Leo nahm sich die kleine Blechtasse, und dabei berührten seine Finger für einen Moment die des anderen Gefangenen. Für den Bruchteil einer Sekunde waren sie sich noch fremd, doch dann blitzte die Erinnerung auf.

    Am selben Tag

    Lasars Augen wirkten riesengroß, wie kalte, schwarze Monde, hinter denen eine rote Sonne brannte. Er war schmal, sein Körper zusammengeschmolzen zu einem Konzentrat seiner früheren Existenz. Seine Haut war straff bis auf die linke Gesichtshälfte, wo sein Kinn und seine Wange eingefallen waren, als bestünden sie aus Wachs und seien zu nah ans Feuer geraten. Leo vermutete kurz, dass er einen Schlaganfall erlitten hatte, doch dann fiel ihm der Abend der Verhaftung von Lasar wieder ein. Unwillkürlich ballte er die Faust - dieselbe Faust, mit der er immer und immer wieder auf ihn eingeprügelt hatte, bis die Wangenknochen nachgegeben hatten. Eigentlich hätte die Verletzung in sieben Jahren heilen sollen, so wie jede. Aber in der Lubjanka hatte man Lasar vermutlich nicht medizinisch versorgt. Vielleicht hatten die Verhörspezialisten sich der Verletzung sogar bedient und die gebrochenen Knochen gequetscht, wenn ihnen eine Antwort nicht gepasst hatte. Im Lager hatte man ihn dann zwar vermutlich notdürftig zusammengeflickt, aber sicher nicht mit plastischer Chirurgie - allein die Vorstellung war abwegig. Leos ebenso unbesonnener wie sinnloser Gewaltakt - ein Verbrechen, das er vergessen hatte, sobald die Knöchel ihm nicht mehr wehtaten - hatte lebendige Gestalt angenommen.
    Lasar ließ sich angesichts ihres Wiedersehens nichts anmerken, er hielt nur kurz inne, und es schien Leo, als schlügen ihre Augen aufeinander wie Feuersteine. Lasars Gesicht aber blieb unergründlich, die linke Hälfte war zu einer ständigen Grimasse verzogen. Ohne ein Wort ging er weiter die Reihe der Häftlinge entlang und goss für die Neuankömmlinge Pinienextrakt in kleine Becher. Er warf nicht einmal einen flüchtigen Blick zurück, so als sei alles in Ordnung und sie beide wieder Fremde.
    Leo blieb reglos stehen und umklammerte seine Blechtasse, bis sich seine Finger um sie verkrampften. Die gallertartige Oberfläche des Sirups aus Kiefernnadeln und Rosenwasser vibrierte mit dem Zittern seiner Hand. Er hatte jede Fähigkeit verloren, klar oder strategisch zu denken.
    Der Kommandant rief ihm gut gelaunt zu: »Du da! Freund! Der Blumenliebhaber! Trink! Das

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