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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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die Kälte zu schützen. Obwohl er sich alle Mühe gab, schaffte er es nicht, das Zähneklappern zu unterdrücken. Sein Blick glitt über die Zone. Die einfachen Blockhausbaracken standen auf Stützpfosten über der gefrorenen Erde. Der Horizont bestand aus Stacheldraht und weißem Himmel. Die Gebäude und anderen Anlagen waren so primitiv, als hätte eine hochstehende Zivilisation sich plötzlich zurückentwickelt und Hochhäuser durch Hütten ersetzt. Hier also waren sie gestorben, die Männer und Frauen, die er verhaftet und deren Namen er vergessen hatte. Hier hatten sie gestanden und diesen Anblick vor Augen gehabt. Trotzdem ging es Leo nicht wie ihnen. Die anderen hatten keine Fluchtpläne gehabt. Sie hatten überhaupt keine Pläne mehr gehabt.

    Sie warteten schweigend, doch von Schores Sinjawski, dem Kommandanten des Gulags 57, war nichts zu sehen. Der Mann war weit über die Gulags hinaus bekannt, Überlebende hatten seine Geschichte nach draußen mitgenommen und überall im Land verbreitet. Der fünfundfünfzigjährige Sinjawski war ein Veteran der glawnoje uprawlenije lagerei, kurz Gulags genannt; sein ganzes Erwachsenenleben hatte er in deren tödlichen Dienst gestellt. Er hatte von Sträflingen durchgeführte Bauprojekte überwacht, unter anderem den Fergana-Kanal und die nicht fertiggestellte Eisenbahn an der Mündung des Ob. Hunderte von Kilometern vor ihrem geplanten Ziel, dem Jenissei, brachen die Gleise ab und verrotteten mittlerweile wie eine prähistorische stählerne Schlangenhaut. Viele Tausend Menschenleben und mehrere Milliarden Rubel hatte dieses Projekt verschlungen, doch Sinjawskis Karriere hatte sein Scheitern nicht geschadet. Während andere Lagerkommandanten dem Verlangen der Gefangenen nach Ruhepausen, Nahrung und Schlaf nachgegeben hatten, hatte er immer sein Plansoll erfüllt. Er hatte seine Gefangenen gezwungen, im kältesten Winter und im heißesten Sommer zu arbeiten. Er hatte nicht am Bau einer Eisenbahn, sondern an seinem Ruf gearbeitet. Er hatte seinen Namen in die Knochen anderer Menschen gemeißelt. Da spielte es keine Rolle, wenn man die Schwellen nicht genügend vorbehandelt hatte, sodass sie in der Julisonne rissen und sich im eisigen Januar verzogen. Es spielte keine Rolle, wenn Arbeiter zusammenbrachen. Auf dem Papier hatte er sein Soll erfüllt. Auf dem Papier war er ein Mann, dem man vertrauen konnte.
    Es war offensichtlich, dass die Gulags für Sinjawski mehr als nur eine Arbeit waren. Er strebte nicht nach Privilegien. Geld interessierte ihn nicht. Und hätte man ihm einen bequemen Verwaltungsposten in moderatem Klima angeboten, wo er ein Lager nicht weit von einer Stadt beaufsichtigen konnte, dann hätte er abgelehnt. Er war fünfundfünfzig Jahre alt und wollte dennoch über das feindseligste Territorium herrschen, das je kolonisiert worden war. Er hatte sich freiwillig nach Kolyma gemeldet. Er hatte die Wüstenei gesehen und beschlossen, dass dies der richtige Ort für ihn war.
    Leo hörte Holz knarren und wandte den Kopf. Oben auf der Treppe kam Sinjawski gerade aus der Kommandantenbaracke. Er war so dick in Rentierfelle eingepackt, dass sie seinen Umfang verdoppelten. Sein Mantel war ebenso kleidsam wie praktisch, und er lag ihm derart selbstverständlich um die Schultern, als hätte er die Tiere selbst im heldenhaften Kampf getötet. Bei jedem anderen Mann hätte ein solch theatralischer Auftritt lächerlich gewirkt. Aber an diesen Ort und zu diesem Mann schien er zu passen. Es war sein Kaisermantel. Er war der Herrscher dieses Reiches.
    Anders als andere Häftlinge, deren Überlebensinstinkte höher entwickelt waren, weil sie schon mehrere Monate in Zügen und Durchgangslagern verbracht hatten, starrte Leo den Kommandanten offen und mit ungezügelter Faszination an. Erst als ihm einfiel, dass er ja gar kein Milizbeamter mehr war, wandte er das Gesicht ab und senkte den Blick zu Boden. Als Gefangener konnte man erschossen werden, wenn man dem Wachpersonal in die Augen sah. Theoretisch hatten sich die Vorschriften zwar geändert, aber wer konnte schon wissen, ob diese Änderungen auch wirklich umgesetzt wurden? »Du da!«, rief Sinjawski.
    Leo hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet. Er hörte die Treppe knarren, als der Kommandant von der erhöhten Veranda hinabstieg. Als er unten angekommen war, knirschten seine Schritte im eisigen Schnee. Dann tauchten zwei wunderschön gefertigte Fellstiefel in Leos Blickfeld auf. Immer noch hielt er die Augen gesenkt

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