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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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einfach werden würde.«
    »Du hast mir nicht widersprochen, als ich sagte: der Mann, der ihre Eltern ermordet hat. Eigentlich hatte ich erwartet, dass du sagst: Leo hat sie nicht erschossen. Er hat versucht, sie zu retten. Er war ein guter Mensch unter lauter schlechten. Aber das glaubst du selbst nicht, stimmt's?«
    »Er war MGB-Offizier. Er hat schreckliche Dinge getan.«
    »Und trotzdem liebst du ihn?«
    »Ich habe ihn nicht immer geliebt.«
    »Aber jetzt schon?«
    »Er hat sich geändert.«
    Frajera lehnte sich vor. »Warum kannst du mir nicht antworten. Liebst du ihn? Ja oder nein?«
    »Ja.«
    Frajera lehnte sich wieder zurück und schien nachzudenken.
    »Er ist nicht mehr der Mann, der Sie verhaftet hat«, fügte Raisa hinzu. »Er ist nicht mehr derselbe.«
    »Da hast du recht. Es gibt einen Unterschied. Früher wurde er von niemandem geliebt. Heute wird er geliebt. Von dir.«
    Frajera knöpfte ihren Hemdkragen auf und entblößte den oberen Teil ihrer Tätowierungen, die sich über ihren Körper erstreckten wie die Symbole einer alten Hexenkunst. »Wie viel weißt du über ihn, Raisa? Wie viel weißt du über seine Vergangenheit?«
    »Er hat mir alles erzählt.«
    »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
    »Er hat die Kirche Ihres Mannes infiltriert. Er hat Sie verraten, er hat Ihre Gemeinde verraten und auch Lasar.«
    »Und schon allein für all diese Taten verdient er den Tod.
    Aber hast du auch gewusst, dass er mir, bevor er seinen Verrat offenbarte, einen Heiratsantrag gemacht hat? Wie ein Liebender im Mondschein?«
    Raisa senkte nickend den Kopf. »Er hat Sie gebeten, Lasar zu verlassen. Ich bin sicher, er dachte damals, Sie würden seine Frau werden. Er hat sich getäuscht. Er hat sich in vielen Dingen getäuscht, auch in der Liebe. Besonders in der Liebe.«
    Frajera schien enttäuscht zu sein, dass sie Raisa nichts Neues verraten konnte. Mit merklich geringerem Enthusiasmus fuhr sie fort: »Er dachte, er würde mich retten. Aber in Wahrheit wollte er nur sich selbst retten. Hätte ich sein Angebot angenommen, dann hätte er sich eingeredet, dass er im Grunde seines Herzens doch ein anständiger Mensch war. So einfach wollte ich ihn nicht von seinen Verbrechen lossprechen. Damals habe ich ihm etwas geschworen. Ich habe ihm geschworen, dass niemand ihn je lieben würde. Und dessen war ich mir ganz sicher. Denn wie konnte jemand so ein Scheusal lieben? Wer konnte diesen Mann lieben?«
    Frajeras starrer Blick verunsicherte Raisa. »Ich will das, was er getan hat, nicht verteidigen.«
    »Das musst du aber. Ich habe euch beide zusammen gesehen. Ich habe euch beobachtet, euch bespitzelt, so wie Leo früher mich bespitzelt hat. Du machst ihn glücklich. Und was noch schlimmer ist, er macht dich glücklich. Deine Liebe zu ihm ist grenzenlos. Deshalb stelle ich sie auf die Probe. Deshalb bin ich hier. Ich will wissen, wie es möglich ist, dass du mit ihm leben kannst. Mit ihm schläfst. Zuerst dachte ich, du bist vielleicht dumm. Ein Offiziersliebchen, schön und ohne Ansprüche. Ich dachte, die Verbrechen, die Leo begangen hat, seien dir einfach egal.«
    Frajera stand auf, kam herüber und setzte sich auf Raisas Bett, als seien sie beste Freundinnen, die sich des Nachts ihre Geheimnisse erzählen. »Ich habe aber festgestellt, dass du dem Staat gegenüber gar keine stumpfsinnige Ergebenheit an den Tag legst. Es gab sogar Gerüchte, du seist eine Dissidentin. Dadurch wurde mir deine Liebe zu Leo ein noch größeres Rätsel, eines, das ich unbedingt lösen musste. Also war ich gezwungen, in deiner Vergangenheit zu wühlen. Soll ich dir erzählen, was ich entdeckt habe?«
    »Sie haben meine Tochter. Sie können alles tun, was Sie wollen.«
    »Deine Familie ist im Krieg umgekommen. Du selbst hast als Flüchtling überlebt.«
    Raisa war wie gelähmt, während Frajera ihre Informationen einsetzte wie ein Messer. »In diesen Jahren bist du vergewaltigt worden.«
    Raisa öffnete kurz den Mund, das war Bestätigung genug. Sie versuchte nicht, es abzuleugnen, denn sie spürte, dass da noch mehr kommen würde. »Wie haben Sie es herausgefunden?«
    »Weil ich in dem Waisenhaus war, wo du dein Kind abgegeben hast.«

    Was Raisa fühlte, war viel gewaltiger als bloße Überraschung. Die intimsten Geheimnisse ihrer Vergangenheit, Geschehnisse, die sie sorgsam weggepackt und begraben hatte, wurden hervorgeholt und ihr unter die Nase gehalten.
    Frajera studierte Raisas Reaktion, dann griff sie nach ihrer Hand. »Weiß Leo das

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