Kolyma
etwa nicht?«
Raisa hielt Frajeras hoffendem Blick stand. »Er weiß es.«
Wieder machte Frajera ein enttäuschtes Gesicht. »Das glaube ich dir nicht.«
»Es hat viele Jahre gedauert, bis ich es ihm erzählt habe, aber dann habe ich es doch getan. Er weiß es, Frajera. Er weiß alles. Er weiß, dass ich keine Kinder bekommen kann, und auch, warum. Er weiß, dass ich das einzige Kind, dem ich je das Leben schenken konnte, weggegeben habe. Er kennt meine Schande. Und er kennt auch seine.«
Frajera berührte Raisas Gesicht. »Hast du Leo deshalb geheiratet? Weil du spürtest, wie sehr er sich nach Liebe sehnte? Mit Freuden wäre er der Vater deines Kindes geworden. Du hast in ihm eine Chance gesehen. Du wolltest dein Kind aus dem Waisenhaus holen.«
»Nein. Ich wusste schon, dass mein Kind gestorben war, bevor ich Leo traf. Sobald ich wieder genügend bei Kräften war, eine Bleibe gefunden hatte und wieder eine Mutter sein konnte, bin ich ins Waisenhaus gegangen. Sie sagten mir, das Kind sei an Typhus gestorben.«
»Und warum hast du Leo dann geheiratet? Was war der Grund, dass du Ja gesagt hast?«
»Da ich schon meinen Sohn weggegeben hatte, um selbst zu überleben, war es im Vergleich dazu gar kein so großer Kompromiss mehr, einen Mann zu heiraten, den ich eher fürchtete als liebte.«
Frajera beugte sich vor und küsste Raisa. Dann lehnte sie sich zurück und sagte: »Ich kann deine Liebe für ihn schmecken. Und deinen Hass auf mich.«
»Sie haben mir mein Kind weggenommen.«
Frajera stand auf, ging zur Tür und knöpfte dabei ihr Hemd zu.
»Es ist nicht dein Kind. Solange du Leo liebst, lässt du mir keine Wahl. Deine Liebe ist der Grund dafür, dass er mit sich leben kann. Er hat unsagbare Verbrechen begangen, und trotzdem, trotz allem, wird er noch geliebt. Er hat gemordet und wird geliebt. Und zwar von einer Frau, die alle Männer bewundern, die sogar ich bewundere. Deine Liebe spricht ihn los. Sie ist seine Erlösung.«
Frajera machte ihre Jacke zu, setzte ihre Mütze auf und verbarg sich wieder hinter ihrer Verkleidung. »Ich habe mit Soja gesprochen, bevor ich zu dir gekommen bin. Ich wollte wissen, wie das Leben in dieser Scheinfamilie so ist. Sie ist intelligent, kaputt und vollkommen durcheinander. Sie gefällt mir sehr. Sie hat mir erzählt, dass sie dir ein Angebot gemacht hat. Wenn du Leo verlässt, wird sie wieder glücklich.«
Raisa war verwirrt. Soja war doch eine Geisel. Und dennoch hatte sie sich Frajera anvertraut, hatte mit ihr über Raisa gesprochen, hatte ihre Feindin mit genau den Familiengeheimnissen versorgt, die diese brauchte.
Frajera fuhr fort: »Es überrascht mich, dass du so grausam sein konntest, ihre Bitte ausgerechnet mit einer Liebeserklärung für Leo abzuschlagen. Das Mädchen ist so gestört, dass sie, während Leo schläft, ein Messer aus eurer Küche holt und damit über seinem Bett steht und sich vorstellt, ihm die Kehle durchzuschneiden.«
Raisa ließ alle Deckung fallen. Nach mehreren Anläufen hatte ihre Feindin endlich einen Schwachpunkt gefunden - eine Lüge, ein Geheimnis.
Frajera lächelte. »Wie es scheint, gibt es doch etwas, was Leo dir nicht erzählt hat. Es ist wahr. Soja hat des Öfteren mit einem Messer in der Hand neben seinem Bett gestanden. Leo hat sie erwischt. Er wusste, wie psychisch angeschlagen sie war. Und das hat er dir etwa nicht gesagt?«
Von einem Moment auf den anderen verstand Raisa die seltsamen Vorgänge von damals. Als sie Leo grübelnd am Küchentisch vorgefunden hatte, da hatte er sich gar nicht um Nikolai Gedanken gemacht, sondern um Soja. Sie hatte ihn gefragt, was los sei, aber er hatte ihr nichts gesagt. Er hatte sie angelogen.
Jetzt hatte Frajera Oberwasser. »Merk dir diese Geschichte, und denk gut darüber nach, was ich dir jetzt sage. Ich werde Sojas Angebot wiederholen. Ich werde Soja wohlbehalten in deine Obhut zurückgeben. Im Gegenzug dürfen du und die Mädchen Leo nie mehr wiedersehen. Entweder kannst du die Mädchen lieben oder Leo, so wie es eigentlich ja auch schon die ganzen letzten drei Jahre war. Und jetzt, Raisa, musst du dich entscheiden.«
Kolyma
Gulag 57
Am selben Tag
Leo konnte kaum stehen, geschweige denn hacken. Er arbeitete in einem primitiven Grabensystem drei Meter unter der Bodenkrume, und seine Spitzhacke schlug vergebens auf den Permafrost ein. Hier und da gab es große, schwelende Feuer, wie Scheiterhaufen für gefallene Helden, die langsam abbrannten und den gefrorenen Boden auftauen
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