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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Flasche Chloroform dabei.
    Der Laster bremste und hielt an. Vor ihnen lag eine einfache Holzbrücke, die sich über eine tiefe Erdfalte wölbte, einen Riss in der Landschaft.
    Der Fahrer wedelte ahnungsvoll mit der Hand. »Im Frühsommer, wenn der Schnee auf den Bergen schmilzt, dann ist das da unten ein reißender Fluss.«
    Mühsam beugte sich Timur auf seinem Sitz vor und spähte hinaus auf die wackelige Brücke, deren jenseitiges Ende im Nebel verschwand.
    Der Fahrer runzelte die Stirn. »Die Brücke da ist von Sträflingen gebaut worden. Verlassen kann man sich auf die nicht.«
    In ihrer Begleitung befand sich noch ein weiterer Wärter, der allerdings bis jetzt geschlafen hatte. Nach dem Gestank seiner Kleider zu urteilen hatte er sich letzte Nacht betrunken, so wie vermutlich jede Nacht. Der Fahrer rüttelte ihn wach.
    »Aufwachen, du nutzloser, fauler ... aufwachen!«
    Der Wärter machte die Augen auf und sah blinzelnd auf die Brücke. Er rieb sich die Augen, kletterte aus dem Führerhaus und sprang zu Boden. Dort rülpste er laut und begann achtlos, den Laster einzuweisen.
    Timur schüttelte den Kopf. »Warten Sie.«
    Er stieg ebenfalls aus und streckte die Beine. Dann schloss er die Tür und ging zur Brücke. Der Fahrer hatte mit seiner Besorgnis nicht übertrieben. Der Steg war kaum breiter als der Laster, vielleicht dreißig Zentimeter Platz blieben auf jeder Seite. Das reichte nicht, um die Reifen am Abrutschen zu hindern, wenn man nicht ganz gerade auf die Brücke fuhr. Timur blickte nach unten und sah in etwa zehn Metern Tiefe den Fluss entlangrauschen. Von beiden Uferseiten her ragten tropfende, weiche Eiszungen nach innen. Sie hatten begonnen zu schmelzen und nährten das schmale, reißende Wasser. In ein paar Wochen, wenn der Schnee schmolz, würde das hier ein Sturzbach sein.
    Vorsichtig kroch der Laster voran. Froh, dass er sich vor der Verantwortung drücken konnte, zündete der verkaterte Wärter sich eine Zigarette an. Timur wies den Fahrer an, nach rechts zu lenken, denn der Laster kam vom Kurs ab. Es herrschte zwar schlechte Sicht, aber den Fahrer konnte er sehen, also musste der Fahrer auch ihn sehen können.
    »Nach rechts!«, schrie Timur.
    Obwohl der Lastwagen die Richtung nicht korrigiert hatte, beschleunigte er jetzt. Gleichzeitig gingen die Scheinwerfer an, und ein schwefelgelbes Licht blendete Timur. Das Fahrzeug kam direkt auf ihn zu.
    Timur warf sich zur Seite, aber es war schon zu spät. Mitten in der Luft erwischte ihn die eiserne Stoßstange und zerquetschte ihn, dann warf sie ihn in die Schlucht. Kurz hing sein Körper noch in der Luft und drehte sich zum schimmernden Himmel, dann fiel er hinab und drehte sich direkt über einer der Eiszungen nach unten. Mit dem Gesicht voraus schlug Timur auf. Das Eis und seine Knochen brachen gleichzeitig.
    Wie ein Panzerknacker lag er da, ein Ohr am Eis. Er konnte sich nicht rühren, weder seine Beine noch seine Finger. Auch den Kopf nicht. Schmerz spürte er nicht.
    Von oben rief jemand: »Du Verräter! Wolltest wohl deine eigenen Leute ausspionieren! Aber wir halten zusammen. Wir gegen die!«
    Timur konnte den Kopf nicht wenden, um hinaufzublicken. Aber er erkannte, dass es die Stimme des Fahrers war.
    »Es wird keine Berichte geben, keine Beschuldigungen und damit auch keine Schuld. Nicht hier in Kolyma. Von mir aus in Moskau, aber hier nicht! Wir haben getan, was zu tun war. Wir haben getan, was man uns befohlen hat. Scheiß der Hund auf Chruschtschows Rede! Scheiß der Hund auf deinen Bericht. Wollen mal sehen, wie du ihn von da unten schreiben willst.«
    Der verkaterte Wärter kicherte. Der Fahrer befahl ihm: »Kletter da runter!«
    »Warum?«
    »Sonst entdeckt irgendwer seine Leiche.«
    »Wer denn? Ist doch niemand da.«
    »Keine Ahnung. Einer von seiner Sorte, falls sie noch einen schicken.«
    »Deswegen muss ich doch nicht da runter. Das Eis schmilzt bald.«
    »Erst in drei Wochen, und wer weiß, wer bis dahin noch hier vorbeifährt. Jetzt kletter endlich da runter, und stoß ihn in den Fluss. Mach endlich mal was gründlich.«
    »Ich kann nicht schwimmen.«
    »Er liegt auf dem Eis.«
    »Und wenn es bricht?«
    »Dann kriegst du nasse Füße. Runter da! Und bau keinen Mist.«

    Timur starrte auf den Fluss, sein Atem ging unregelmäßig und rasselnd. Er hörte, wie sein widerwilliger Scharfrichter jammernd wie ein Schulmädchen das steile Ufer hinunterkraxelte. Wie unbeholfen der Tod doch daherkam.
    Solange er sich erinnern konnte, war

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