Kolyma
seine größte Angst immer gewesen, dass eines seiner Familienmitglieder einmal in einem Gulag sterben könnte. Um sich selbst hatte er sich nie Sorgen gemacht. Er war sich immer sicher gewesen, dass er damit schon zurechtkommen und irgendwie, egal wie, wieder nach Hause zurückfinden würde. Es fiel ihm schwer zu akzeptieren, dass dies die letzten Minuten seines Lebens waren. Timur dachte an seine Frau. Und an seine Söhne.
* * *
Der Wärter war wütend, dass man ihn so herumkommandierte, und zwang sich, die Abbruchwände hinabzuklettern. Er rutschte dabei ständig aus. Womöglich würde er sich noch den Knöchel verstauchen, und außerdem hatte er einen höllischen Kater-Kopfschmerz. Endlich war er am Ufer angekommen. Vorsichtig trat er mit seinen schweren Stiefeln auf das Eis und probierte aus, ob es ihn trug. Dann kroch er, um sich leichter zu machen, wie ein Käfer auf allen vieren zum Körper dieses Typen aus Moskau. Er stieß den Verräter mit seinem Gewehrlauf an. Der rührte sich nicht.
»Er ist tot«, rief er.
»Durchsuch seine Taschen!«
Der Wärter schob seine Hand in die Taschen des Mannes und fand einen Brief, etwas Geld und ein Messer - nichts Besonderes. »Da ist nichts.«
»Was ist mit seiner Uhr?«
Der Wärter zog sie dem anderen vom Handgelenk. »Die ist kaputt.«
»Schmeiß ihn ins Wasser.«
Der Wärter setzte sich auf das Eis und drückte den Körper mit den Stiefeln in Richtung Fluss. Obwohl der Mann schwer war, glitt er ohne größere Probleme über das glatte Eis. Als er am Rand lag, sah der Wärter, dass seine Augen offen waren. Sie blinzelten. Dieser Moskauer Verräter war also noch am Leben.
»Er lebt noch!«
»Aber nicht mehr lange. Schieb ihn rein. Mir wird kalt.« Der Wärter sah den Mann noch einmal blinzeln, dann stieß er ihn über den Rand des Eises in den Fluss. Es klatschte. Der Körper schaukelte auf und ab, dann wurde er flussabwärts weggetragen, bis er nicht mehr zu sehen war. Hinein in die Wildnis, wo ihn kein Mensch mehr finden würde.
Der Wärter blieb auf dem Eis sitzen und untersuchte die Uhr. Sie war billig und außerdem kaputt, also wertlos. Trotzdem brachte er es nicht über sich, sie ins Wasser zu werfen. Auch wenn das Glas zersprungen war, eigentlich war es doch eine Schande, sie wegzuschmeißen.
Moskau
Am selben Tag
»Wann kommt Soja nach Hause?«, fragte Elena. »Bald«, antwortete Raisa. »Wenn ich vom Einkaufen wieder da bin?«
»Nein, so bald noch nicht.«
»Wie bald denn?«
»Wenn Leo wieder nach Hause kommt, bringt er Soja mit. Wann genau das ist, kann ich auch nicht sagen, aber bald.«
»Versprichst du es?«
»Leo tut alles, was er kann. Wir müssen noch ein bisschen Geduld haben. Kannst du das für mich schaffen?«
»Wenn du mir versprichst, dass es Soja gut geht.«
Unmöglich hätte Raisa dieses Versprechen nicht geben können. »Das verspreche ich dir.«
Jeden Tag fragte Elena dasselbe. Und jedes Mal so, als hätte sie diese Fragen noch nie gestellt. Eigentlich ging es ihr nicht um neue Informationen, sondern um den Ton, in dem die Antwort gegeben wurde. Jede Veränderung fiel ihr auf, und jeder kleinste Hinweis auf Ungeduld, Verärgerung oder gar Zweifel ließ sie in die verzweifelte Erstarrung zurückfallen, die sie unmittelbar nach Sojas Gefangennahme befallen hatte. Sie hatte ihr Zimmer nicht mehr verlassen wollen und so lange geweint, bis sie vor Erschöpfung nicht einmal mehr weinen konnte. Leo hatte den ärztlichen Rat zurückgewiesen, ihr Beruhigungsmittel zu verabreichen, und stattdessen jeden Abend an ihrem Bett gesessen, Stunde um Stunde. Erst nach Raisas Rückkehr aus dem Krankenhaus besserte sich Elenas Zustand allmählich. Am auffälligsten hatte zu ihrer Genesung beigetragen, dass Leo Moskau verlassen hatte. Nicht etwa, weil sie ihn weghaben wollte, aber es war der erste konkrete Hinweis, dass etwas unternommen wurde, um Soja zurückzuholen. Elena fiel die Vorstellung leicht, dass Leo bei seiner Rückkehr selbstverständlich Soja dabeihaben würde. Sie musste gar nicht wissen, wo genau ihre Schwester war oder was sie da machte. Hauptsache, sie kam nach Hause, und zwar bald.
Leos Eltern warteten schon an der Wohnungstür. Raisa, die von ihren Verletzungen immer noch geschwächt war, war auf ihre Hilfe angewiesen. Die beiden waren in den abgeschirmten Ministeriumskomplex umgezogen, kochten und machten sauber und sorgten so für eine Atmosphäre häuslicher Normalität. Kurz vor dem Aufbruch blieb Elena noch einmal
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