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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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sollten. Aber in Leos Nähe war keines, der Anführer seiner Arbeitsbrigade hatte ihn bewusst in die entlegenste und kälteste Ecke der Goldminen eingeteilt, wo die noch am wenigsten ausgehobenen Gräben lagen. Selbst wenn er im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen wäre, hätte er unmöglich seine Norm erfüllen können, das Minimum an Gestein, das er losschlagen musste, damit er die übliche Essensration bekam.
    Vor Erschöpfung zitterten seine Beine, sie konnten sein Gewicht nicht mehr tragen. Seine Knie waren geschwollen und blutunterlaufen, über den Kniescheiben hatten sich wässrige Blasen gebildet. In der vergangenen Nacht hatte man Leo auf die Knie gezwungen, ihm die Hände auf den Rücken gebunden und dann die Hand- und Fußgelenke aneinandergefesselt, sodass sein ganzes Gewicht auf den Kniescheiben ruhte. Damit er nicht umfiel, hatte man ihn an der Leiter eines Stockbettes festgebunden. Stunde um Stunde hatte er da gekauert, ohne auch nur einmal das Gewicht verlagern zu können. Die Haut hatte sich angespannt, die Knochen rieben auf dem Holzboden und scheuerten seine Haut wund. Sobald er sich bewegte, schrie er auf. Also knebelte man ihn, damit die anderen Gefangenen schlafen konnten. Leo hockte derweil weiter auf Knien und biss auf einen dreckigen Lumpen, mit dem die Häftlinge absichtlich zuvor noch ihre offenen Geschwüre abgewischt hatten. Von überall hörte man Schnarchen, nur einer war noch wach - Lasar. Er passte die ganze Nacht auf Leo auf, nahm ihm mit väterlicher Fürsorge den Knebel ab, wenn er sich übergeben musste, und band ihn danach wieder fest, wie ein Vater, der einen kranken Sohn pflegte - einen Sohn, dem man eine Lektion erteilen musste.
    Im Morgengrauen kam Leo prustend wieder zu Bewusstsein, als man ihm eiskaltes Wasser über den Kopf goss. Als man ihm die Fesseln und den Knebel abnahm, sackte er in sich zusammen. Er spürte seine Füße nicht mehr, so als hätte man ihm die Beine unterhalb der Knie amputiert. Erst nach mehreren quälenden Minuten konnte er sich humpelnd hochhieven - es kam ihm vor, als sei er um hundert Jahre gealtert. Das Frühstück ließen ihm seine Mitgefangenen, er durfte sich an den Tisch setzen und mit zitternden Händen seine Ration zu sich nehmen. Sie wollten, dass er am Leben blieb. Sie wollten, dass er litt. Wie einer, der in der Wüste von einer Oase fantasiert, konzentrierte sich Leo nur noch auf das flirrende Bild von Timur. Da es unmöglich war, in der Nacht von Magadan herzufahren, konnte sein Freund und Retter eigentlich nur innerhalb einer gewissen Zeitspanne am frühen Abend eintreffen.
    Als Leo mit vor Erschöpfung zitternden Armen seine Hacke hob, knickten ihm die Beine weg. Er fiel nach vorne, direkt auf seine geschwollenen Knie. Die wässrigen Beulen platzten auf wie reife Jünglingspickel. Leo riss den Mund auf, ein lautloser Schrei. Um die Knie zu entlasten, ließ er sich unten im Graben zur Seite fallen, dabei schossen ihm Tränen in die Augen. Die Erschöpfung hatte jeden Selbsterhaltungstrieb erstickt. Einen Moment lang wäre er zufrieden gewesen, wenn er einfach nur die Augen hätte schließen und einschlafen können. Bei diesen Temperaturen wäre er nicht mehr aufgewacht.
    Dann dachte er an Soja, an Raisa und Elena - seine Familie. Er setzte sich auf und presste die Hände auf den Boden. Langsam drückte er sich hoch. Kaum war er wieder auf den Beinen, packte ihn jemand und zischte ihm ins Ohr: »Keine Ruhepausen, Tschekist!«
    Keine Ruhepausen und keine Gnade. Das war Lasars Urteil, und es wurde mit aller Konsequenz umgesetzt. Die Stimme, die in sein Ohr geflüstert hatte, gehörte keinem Wachmann, sondern einem Häftling, dem Anführer der Brigade. Er wurde von heftigem persönlichem Hass angetrieben und gestattete Leo keine Minute, in der er nicht von Schmerz oder Hunger oder Erschöpfung geplagt wurde oder von allem zusammen. Verhaftet hatte Leo weder diesen Mann noch jemanden aus seiner Familie, er kannte nicht einmal seinen Namen. Aber das spielte keine Rolle. Er war für jeden Gefangenen zu einer Art Maskottchen geworden, zu einem Botschafter des Unrechts. Tschekist war sein neuer Name, seine neue Identität. Und von dieser Warte aus hatte durchaus jeder seinen ganz persönlichen Grund, ihn zu hassen.
    Eine Glocke wurde geschlagen. Die Werkzeuge wurde fallen gelassen. Leo hatte seinen ersten Tag in der Mine überstanden, eine beinahe harmlose Tortur verglichen mit dem, was ihn heute Nacht erwarten würde - seine zweite, noch nicht

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