Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Familienleben und Nachtschlaf zu opfern, um einen der Elenden dieser Gesellschaft zu retten. Aber am Osloer Dezernat für Gewaltverbrechen gab es keinen Hauptkommissar Harry Hole mehr, und die anderen hatten ihn nie angerufen. Sein Blick huschte wieder über die aufgeschlagene Zeitungsseite. Es ging um eine Pressekonferenz. Der Mord an dem Polizisten im Maridalen lag jetzt schon fast drei Monate zurück, und die Polizei hatte noch immer keine Spur, geschweige denn einen Verdächtigen. Solche Fälle waren es gewesen, bei denen er früher angerufen worden war. Der Mord hatte am gleichen Ort und Datum stattgefunden wie ein alter, ungeklärter Fall. Das Opfer war ein Polizist, der an den damaligen Ermittlungen beteiligt gewesen war.
Stattdessen musste er sich um die Schlaflosigkeit eines überarbeiteten Geschäftsmanns kümmern, den er noch nicht einmal leiden konnte. Gleich würde Aune die nötigen Fragen stellen, um ein posttraumatisches Stresssyndrom ausschließen zu können. Der Mann vor ihm war durch seine Alpträume nicht in seiner Funktion eingeschränkt, es ging ihm nur darum, seine eigene Produktivität wieder auf ein Topniveau zu bringen. Danach würde Aune ihm etwas zu lesen geben, eine Kopie des Artikels »Imagery Rehearsal Therapy« von Krakow und – an die anderen Namen erinnerte er sich plötzlich nicht mehr –, und ihn bitten, seine Alpträume aufzuschreiben und diese Aufzeichnungen beim nächsten Mal mitzubringen. Dann würden sie sich zusammen eine Alternative ausdenken, einen glücklichen Schluss für den Alptraum, den sie dann mental einüben würden, bis der Traum ihm entweder angenehmer erschien oder ganz einfach verschwand.
Aune hörte das monotone, einschläfernde Schnarren der Stimme seines Patienten und dachte, dass die Ermittlungen des Mordes im Maridalen vom ersten Tag an auf der Stelle getreten waren. Nicht einmal die auffälligen Übereinstimmungen mit dem Sandra-Fall, was Datum, Ort und Person betraf, hatten das Kriminalamt oder das Morddezernat vorangebracht. Und jetzt forderten sie die Bevölkerung auf, noch einmal über den Tag nachzudenken und mögliche Hinweise zu geben, so irrelevant diese ihnen auch erscheinen mochten. Das war das Thema der gestrigen Pressekonferenz gewesen. Aune hatte den Verdacht, dass das bloß ein Spiel für die Galerie war, um den Eindruck zu erwecken, dass sie etwas taten und nicht bloß paralysiert in der Ecke saßen. Wobei es genau danach aussah: nach einer hilflosen und hart kritisierten Ermittlungsleitung, die sich nun resigniert an ein Publikum wandte, in der Hoffnung, dass die es vielleicht besser konnten.
Er sah sich die Bilder der Pressekonferenz an. Erkannte Beate Lønn wieder und Gunnar Hagen, den Chef des Morddezernats, dessen kräftige, dichte Haare seine Glatze wie eine Mönchstonsur umrahmten. Sogar Mikael Bellman, der neue Polizeipräsident, hatte teilgenommen, schließlich ging es ja um einen Mord an einem Kollegen. Sein Gesicht war angespannt. Schmaler, als Aune es in Erinnerung hatte. Die medienfreundlichen, etwas zu langen Locken hatten irgendwann auf dem Weg nach oben, zwischen seinem Job als Leiter des Dezernats OrgKrim und Chef des gesamten Präsidiums, fallen müssen. Aune dachte an Bellmans fast androgyne Schönheit, unterstrichen von den langen Wimpern und dem bronzenen Teint mit den charakteristischen weißen Pigmentflecken. Nichts davon war auf den Bildern zu sehen. Ein unaufgeklärter Polizistenmord war natürlich der schlechtmöglichste Start für einen neuen Polizeipräsidenten, dessen Blitzkarriere auf Erfolg basierte. Dass er unter den Drogengangs in Oslo aufgeräumt hatte, konnte schnell wieder in Vergessenheit geraten. Der pensionierte Erlend Vennesla war formell gesehen zwar nicht im Dienst getötet worden, aber den meisten war zweifelsohne klar, dass der Mord an ihm irgendetwas mit dem Sandra-Fall zu tun haben musste. Deshalb hatte Bellman absolut jeden seiner Leute, der kriechen oder laufen konnte, mobilisiert und sogar externe Kreise eingeschaltet. Nur nicht ihn, Ståle Aune. Er war von ihren Listen gestrichen worden. Nicht weiter verwunderlich, er hatte selbst darum gebeten.
Und mit dem Eintritt des frühen Winters hatte sich Schnee auf die Spuren gelegt. Spuren, die längst erkaltet waren. Wenn es überhaupt noch Spuren waren. Beate Lønn hatte auf der Pressekonferenz das auffällige Fehlen konkreter Spuren angesprochen. Natürlich hatten sie alle Personen überprüft, die irgendwie mit dem Sandra-Fall in
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