Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
zulassen.
Harry schlug weiter. Das Eisen brach krachend durch die Decke, und weißer Kalk rieselte auf sein Gesicht.
Harry war kein Polizist, sondern bloß ziviler Berater, kein Vertreter der Ermittlungsgruppe, sondern lediglich eine Privatperson, die folglich zur Verantwortung gezogen und wegen Vandalismus auf eigene Kosten vor Gericht gestellt werden würde. Aber diesen Preis war Harry zu zahlen bereit.
Er schloss die Augen und drückte das Brecheisen nach hinten. Gipsstücke rieselten auf seine Stirn und seine Schultern, und der Gestank wurde intensiver. Er steckte das Brecheisen noch einmal hinein, vergrößerte das Loch und sah sich nach etwas um, das er auf den Sessel stellen konnte, so dass er daraufklettern und den Kopf durch das Loch stecken konnte.
Da war es wieder. Eine Bewegung am Fenster. Harry sprang nach unten, legte die Hände an die Scheibe, um das Licht abzuschirmen, und beugte sich zum Glas vor. Er sah aber nur die Umrisse der Apfelbäume im Garten. Einige Zweige bewegten sich leicht. War Wind aufgekommen?
Harry drehte sich wieder um, fand eine große IKEA -Plastikkiste und stellte sie auf den Sessel. Als er daraufklettern wollte, hörte er ein knackendes Geräusch aus dem Flur. Er blieb stehen und wartete lauschend. Es folgten aber keine weiteren Geräusche. Harry schüttelte das unangenehme Gefühl ab, bestimmt waren das nur die Geräusche des alten Holzhauses im Wind. Er balancierte auf dem Deckel der Plastikkiste, richtete sich vorsichtig auf, drückte die Handflächen gegen die Decke und steckte den Kopf durch das Loch in den Gipsplatten.
Der Gestank war jetzt so intensiv, dass seine Augen sich sofort mit Wasser füllten und er sich auf seinen Atem konzentrieren musste. Und der Gestank war bekannt. Fleisch in einem Verwesungsgrad, in dem das Gas schon fast gesundheitsgefährdend war. Nur einmal zuvor hatte er den Gestank derart intensiv erlebt. Damals hatten sie eine Leiche nach zwei Jahren in einem dunklen Keller gefunden und ein Loch in das Plastik geschnitten, in das sie eingewickelt gewesen war. Nein, das war kein einzelner Nager, nicht einmal eine Nagerfamilie. Es war dunkel in der Zwischendecke und sein Kopf hielt das Licht ab, aber unmittelbar vor sich glaubte er etwas zu erkennen. Er wartete, bis seine Pupillen sich langsam geweitet hatten, um das wenige Restlicht auszunutzen. Und dann sah er es. Es war ein Bohrer, nein, eine Stichsäge. Aber weiter hinten war noch etwas, etwas, von dem er allerdings nicht mehr als die vage Silhouette erkennen konnte. Etwas … Sein Hals schnürte sich zu. Ein Laut. Schritte. Unter ihm.
Er versuchte, den Kopf aus dem Loch zu bekommen, aber mit einem Mal schienen sich die Ränder zugezogen zu haben, als wollten sie ihn für immer dort oben bei den Toten haben. Er spürte die Panik kommen, bekam die Finger zwischen Hals und Gipsplatte und brach ein paar Stücke heraus, bis er den Kopf nach unten ziehen konnte.
Die Schritte waren verstummt.
Harrys Herz schlug bis in den Hals hinauf. Er wartete, bis er ganz ruhig war. Nahm das Feuerzeug aus der Tasche, steckte die Hand durch das Loch und ließ es aufflammen. Als er den Kopf wieder hineinstecken wollte, fiel ihm die Silhouette hinter dem Plastikvorhang im Durchgang zum Wohnzimmer auf. Dort stand jemand und sah zu ihm herein.
Harry räusperte sich. »Katrine?«
Keine Antwort.
Harrys Augen suchten das Brecheisen, das er irgendwo auf den Boden gelegt hatte. Er fand es, stieg langsam nach unten, bekam einen Fuß auf den Boden und realisierte, dass er nicht schnell genug sein würde, als der Plastikvorhang mit einem Ruck zur Seite geschoben wurde. Die Stimme klang beinahe munter.
»So sehen wir uns also wieder.«
Er blickte auf. Im Gegenlicht brauchte er ein paar Sekunden, bis er das Gesicht wiedererkannte. Er fluchte leise. Sein Hirn ging alle möglichen Szenarien für die nächsten Sekunden durch, fand aber keins, sondern blieb immer wieder an einer Frage hängen: Verdammt, was kommt jetzt?
Kapitel 29
D ie Tasche, die sie über der Schulter trug, schlug überraschend hart auf den Boden auf.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Harry heiser und wurde sich klar, dass er das schon einmal gesagt hatte. Auch ihre Worte kamen ihm bekannt vor.
»Vom Training. Kampfsport.«
»Das ist keine Antwort, Silje.«
»Doch, das ist es«, antwortete Silje Gravseng und schob ihre Hüfte vor. Sie trug eine dünne Trainingsjacke, schwarze Tights, Joggingschuhe, Pferdeschwanz und hatte ein vielsagendes
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