Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Wache habe ich Silje Gravseng getroffen. Sie war da, um ihre Schlüsselkarte abzugeben, sie war … etwas …«
»Klassensprecherin.«
»Ja, wie dem auch sei, sie hat nach dir gefragt. Ich habe nichts gesagt. Und dann hat sie noch gemeint, du seist ein Bluff. Dein Chef hätte ihr erzählt, dass deine hundertprozentige Aufklärungsrate ein Mythos sei, der gar nicht stimme. Gusto Hanssen, sagte sie. Ist das richtig?«
»Hm, in gewisser Weise.«
»In gewisser Weise? Was soll das denn heißen?«
»Dass ich in dem Fall ermittelt und nie jemanden festgenommen habe. Wie hat sie auf dich gewirkt?«
Arnold Folkestad kniff ein Auge zu und sah Harry an, als zielte er auf einen Punkt in seinem Gesicht.
»Tja, schwer zu sagen. Silje Gravseng ist ein seltsames Mädchen, sie hat mich zum Schießtraining nach Økern eingeladen. Einfach so aus dem Nichts.«
»Hm. Und was hast du dazu gesagt?«
»Ich habe auf meinen Sehfehler und mein Zittern hingewiesen und ihr erzählt, dass das Ziel schon einen halben Meter vor mir sein müsste, um eine Chance auf einen Treffer zu haben. Und das stimmt ja auch. Sie hat das akzeptiert, aber hinterher habe ich mich gefragt, was sie beim Schießtraining will, wo sie jetzt ja nicht mehr zu den regelmäßigen Schießprüfungen muss?«
»Gute Frage«, sagte Harry. »Es soll ja Menschen geben, die einfach gerne schießen.«
»So viel dazu«, sagte Arnold und stand auf. »Aber sie sieht gut aus, das muss man ihr lassen.«
Harry sah seinem Kollegen nach, der in den Flur hinkte. Er überlegte einen Moment, suchte dann die Nummer der zuständigen Dienststellenleiterin in Nedre Eiker heraus und rief sie an. Anschließend blieb er noch eine Weile sitzen und grübelte über das nach, was sie gesagt hatte. Es stimmte, dass Bertil Nilsen nicht an der Ermittlung im Fall René Kalsnes in der Nachbargemeinde Drammen beteiligt gewesen war. Aber er war auf der Wache, als der Anruf mit dem Hinweis einging, dass im Fluss unweit des Eiker-Sägewerks ein Auto im Fluss lag. Und er war ausgerückt, da es zu dem Zeitpunkt noch unklar gewesen war, auf welcher Seite der Gemeindegrenze das Auto lag. Dann hatte sie ihm auch noch verraten, dass die Drammener Polizei und das Kriminalamt sie kritisiert hätten, weil Nilsen über den weichen Weg gefahren war und damit mögliche Reifenspuren zunichtegemacht hatte. »Man kann also schon sagen, dass er Einfluss auf die Ermittlungen hatte.«
Es war fast zehn Uhr und die Sonne längst hinter den grünen Hügeln im Westen untergegangen, als Ståle Aune seinen Wagen in der Garage abstellte und über den gekiesten Weg zum Haus ging. Weder im Wohnzimmer noch in der Küche brannte Licht. So ungewöhnlich war das nicht, seine Frau ging häufig früh ins Bett.
Er spürte die Schwere seines Körpers in den Knien. Mein Gott, wie müde er war.
Er schloss die Tür auf. Er hatte einen langen Tag hinter sich, aber trotzdem gehofft, dass sie noch auf war. Damit sie ein bisschen reden konnten und er eine Chance hatte, zur Ruhe zu kommen. Er hatte getan, was Harry ihm empfohlen hatte, und mit einem Kollegen über den Angriff mit dem Messer gesprochen und darüber, dass er sich sicher gewesen war, sterben zu müssen. Er hatte alles getan, was nötig war, und wollte jetzt nur noch schlafen. Schlafen.
Er ging ins Haus und sah Auroras Jacke an der Garderobe hängen. Schon wieder eine neue. Wie das Mädchen wuchs. Er streifte sich die Schuhe von den Füßen. Richtete sich auf und lauschte in die Stille im Haus. Er konnte nicht sagen, warum, hatte aber irgendwie das Gefühl, als wäre es stiller als sonst.
Er ging die Treppe nach oben. Mit jedem Schritt ein bisschen langsamer, wie ein überladener Scooter an einer Steigung. Er musste unbedingt anfangen, Sport zu machen, und wenigstens zehn Kilo abspecken. Das wäre gut für den Schlaf, gut fürs Wohlbefinden, gut für lange Arbeitstage, für die Lebenserwartung, für den Sex, das Selbstwertgefühl, kurz gesagt, für alles. Aber dazu kommen würde er doch nicht, da war er sich ziemlich sicher.
Er lief an Auroras Schlafzimmertür vorbei.
Blieb stehen, zögerte einen Moment und ging zurück. Legte die Hand auf die Klinke.
Er wollte nur kurz einen Blick auf seine schlafende Tochter werfen, wie er es früher immer getan hatte. Bald würde das nicht mehr möglich sein, er spürte bereits, dass ihr ihre Privatsphäre immer wichtiger wurde. Sie hatte zwar keine Hemmungen, in seiner Anwesenheit nackt herumzulaufen, sie bewegte sich dabei aber
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