Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
ganz falsch ist. Es einfach laufen zu lassen. Aber kann man damit leben, Øystein?«
»Klar, Mann. Aber was diesen Punkt angeht, warst du ja schon immer ein Sonderling, Harry. Kannst du damit leben?«
»Für gewöhnlich nicht, aber ich sollte ja, wie gesagt, nicht nur an mich denken.«
»Kannst du es nicht so aussehen lassen, als ob andere ihn zur Strecke bringen?«
»Er wird alles, was er über andere Polizisten weiß, preisgeben, um sich ein reduziertes Strafmaß zu verschaffen. Er hat als Brenner und als Mordermittler gearbeitet, der kennt alle Tricks. Außerdem wird der Polizeipräsident sich vor ihn stellen, die beiden wissen zu viel übereinander.«
Øystein schnappte sich Harrys Zigarettenpäckchen. »Weißt du was, Harry? Das hört sich für mich so an, als wolltest du meinen Segen, um jemanden umzubringen. Weiß sonst noch jemand, was du vorhast?«
Harry schüttelte den Kopf. »Nicht einmal die Kollegen in meiner Ermittlungsgruppe.«
Øystein nahm sich eine Zigarette heraus und zündete sie mit seinem Feuerzeug an.
»Harry.«
»Ja.«
»Du bist der schlimmste Alleingänger, den ich kenne.«
Harry sah auf die Uhr, es war bald Mitternacht. Er sah blinzelnd durch die Frontscheibe und sagte: »Einzelgänger heißt das.«
»Nee, allein. Und das selbstgewählt.«
»Wie dem auch sei«, sagte Harry und öffnete die Tür. »Danke für deinen Rat.«
»Welchen Rat?«
Die Tür fiel ins Schloss.
»Welchen verfickten Rat?«, rief Øystein der gebeugten Gestalt nach, die rasch im Dunkel der Stadt verschwand. »Und wie wär’s mit einer Taxifahrt nach Hause, du geiziges Arschloch!«
Es war dunkel und still im Haus.
Harry saß auf dem Sofa und starrte auf den Schrank. Er hatte niemandem etwas über seinen Verdacht gegen Truls Berntsen gesagt, hingegen hatte er Bjørn und Katrine angerufen und sie über das kurze Gespräch mit Mikael Bellman unterrichtet. Der Polizeipräsident hatte ein Alibi, was nur bedeuten konnte, dass die Analyseergebnisse entweder auf einem Fehler beruhten oder jemand falsches Beweismaterial platziert hatte. Auf jeden Fall wollten sie bis auf weiteres zurückhalten, dass die Kugel in der Beweisbox aus Bellmans Pistole stammte, und auch mit niemandem über dieses Gespräch reden.
Über Truls Berntsen hatte er nicht ein Wort verloren.
Kein Wort über das, was geschehen musste.
Es gab keinen anderen Weg, so etwas musste man allein erledigen.
Der Schlüssel lag versteckt auf dem Schallplattenregal.
Harry schloss die Augen. Suchte die Pause-Taste, um nicht länger dem Dialog lauschen zu müssen, der kein Ende nahm in seinem Kopf. Ohne Erfolg, die Stimmen wurden lauter, sobald er zu entspannen versuchte. Dass Truls Berntsen verrückt war. Und dass das keine Vermutung, sondern eine Tatsache war. Kein geistig gesunder Mensch startete eine solche Mordserie gegen seine eigenen Kollegen.
Ein Einzelfall war das nicht. Dafür reichte ein Blick über den großen Teich nach Amerika, wo Menschen, denen gekündigt worden war oder die auf andere Weise gedemütigt worden waren, an ihren Arbeitsplatz zurückkehrten und ihre Kollegen erschossen. Omar Thornton ermordete acht der Leute, mit denen er in einem Brauereilager gearbeitet hatte, nachdem ihm gekündigt worden war, weil er Bier abgezweigt hatte. Wesley Neal Higdon erschoss fünf Menschen, nachdem sein Chef ihn zusammengestaucht hatte. Jennifer San Marco feuerte sechs tödliche Schüsse auf die Köpfe ihrer Postkollegen ab, nachdem sie entlassen worden war, weil sie eben verrückt war.
Dieser Fall unterschied sich im Grad der Planung und der akribischen Durchführung von anderen. Also, wie verrückt war Truls Berntsen wirklich? Gestört genug, damit die Polizei seiner Behauptung, Harry Hole habe in einer Bar jemanden umgebracht, keinen Glauben schenkte?
Nein.
Nicht, wenn er Beweise hatte. Beweise konnten nicht gestört sein.
Truls Berntsen.
Harry fühlte in sich hinein.
Alles stimmte. Aber stimmte auch das Wichtigste? Hatte er ein Motiv? Was hatte Mikael Bellman gesagt? Dass eine Frau davon phantasiert, vergewaltigt zu werden, heißt noch lange nicht, dass sie vergewaltigt werden will. Dass ein Mann von Vergewaltigung phantasiert, heißt nicht …
Verdammt! Verdammt! Schluss damit!
Aber es hörte nicht auf. Er würde erst Frieden finden, wenn er das Problem gelöst hatte. Und dahin führten nur zwei Wege. Der eine war der herkömmliche, nach dem jede Zelle seines Körpers sich sehnte. Ein Drink. Ein Drink, aus dem viele wurden, die
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