Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
blicken. Obwohl der Mond schien, konnte er nicht sehen, ob sich die Stangen mit den T-förmigen Bügeln bewegten, das Brummen der Maschine war aber unverkennbar.
Als er über die Kante fuhr und in langen Bogen nach unten carvte, dachte er, wie seltsam still es hier oben in der Nacht doch war. Eine Stunde nach Schließen der Anlagen war die Luft immer noch erfüllt vom Echo der Stimmen, den fröhlichen Schreien der Jungs, dem überdrehten Kreischen der Mädchen, dem Kratzen der Stahlkanten auf dem Eis und dem testosterongesteuerten Geschrei der Jugendlichen nach Aufmerksamkeit. Auch das Licht schien nach dem Ausschalten der Scheinwerfer noch eine ganze Weile zwischen den Bäumen hängenzubleiben, bis es irgendwann langsam, aber sicher stiller wurde. Und dunkler. Und noch ruhiger. Bis die Stille sich in alle Senken gelegt hatte und das Dunkel vollends aus dem Wald gekrochen kam. In diesem Moment verwandelte sich Tryvann in einen anderen Ort, einen Ort, der selbst für Stian, der sich hier wie in seiner Westentasche auskannte, so fremd wurde, dass er ebenso gut auf einem anderen Planeten hätte sein können. Einem kalten, dunklen, unbewohnten Planeten.
Es war so dunkel, dass er vorsichtig fahren und vorausahnen musste, wie sich der Schnee und das Gelände unter seinen Skiern verhielten. Aber genau das war sein Talent. Die besten Resultate erzielte er bei Schneetreiben, Nebel und fahlem Licht. Er fühlte, was er nicht sah, hatte die clairvoyance , die manche Skifahrer einfach besaßen, andere – die meisten – hingegen nicht. Er spielte damit und fuhr langsam, um den Genuss in die Länge zu ziehen. Dann war er unten und fuhr vor das Lifthäuschen.
Die Tür war aufgebrochen worden.
Holzsplitter lagen im Schnee, und die offene Tür starrte ihn schwarz an. Erst in diesem Moment wurde Stian klar, wie mutterseelenallein er war. Es war mitten in der Nacht, und er befand sich an einem vollkommen verlassenen Ort, an dem gerade erst ein Verbrechen begangen worden war. Vermutlich nur ein Dummer-Jungen-Streich, aber ganz sicher war er sich nicht, dass es bloß ein Streich war und er wirklich allein .
»Hallo!«, rief Stian und versuchte das Brummen des Motors und das Klappern der Bügel zu übertönen, die mit dem leise singenden Drahtseil angerauscht kamen und sich wieder entfernten. Im selben Moment bereute er sein Rufen. Das Echo kam ihm von der anderen Talseite entgegen und mit ihm auch das Echo seiner Furcht. Denn Angst hatte er. Seine Gedanken waren nämlich nicht bei den Worten »Verbrechen« und »allein« stehen geblieben, sondern weiter zurückgegangen bis zu der alten Geschichte. Tagsüber, wenn es hell war, dachte er nie daran, aber wenn er abends Dienst hatte und fast keine Skiläufer mehr da waren, kam diese Geschichte mit dem Dunkel aus dem Wald gekrochen. Es war außerhalb der Saison gewesen, in einer schneefreien, klaren Winternacht in den späten Neunzigern. Das Mädchen war vermutlich im Zentrum betäubt und dann hier hochgebracht worden. In Handschellen und Kapuze. Man hatte sie vom Parkplatz hierherbugsiert, die Tür aufgebrochen und sie in der Hütte vergewaltigt. Das fünfzehnjährige Mädchen sollte so klein und zierlich gewesen sein, dass der oder die Täter sie im bewusstlosen Zustand problemlos vom Parkplatz bis nach unten getragen hatten. Man konnte nur hoffen, dass sie wirklich die ganze Zeit über bewusstlos gewesen war. Außerdem hatte Stian gehört, dass das Mädchen mit zwei großen Nägeln an die Wand genagelt worden war, an beiden Schultern unter dem Schlüsselbein, so dass der oder die Täter sie im Stehen vergewaltigen konnten, bei minimalem Körperkontakt mit den Wänden, dem Boden oder dem Mädchen. Aus diesem Grund hatte die Polizei auch keine DNA -Spuren, Fingerabdrücke oder Kleiderfasern gefunden. Vielleicht stimmte das alles aber auch gar nicht. Sicher war nur, dass sie das Mädchen an drei Orten gefunden hatten. Der Torso mit dem Kopf hatte unten im See gelegen, die beiden Hälften ihres Unterleibs weit vom Tatort entfernt im Wald unweit der Wyller-Loipe und am Ufer des Aurtjerns, so weit voneinander entfernt und noch dazu in entgegengesetzten Richtungen vom Tatort, dass die Polizei von zwei Tätern ausgegangen war. Aber das war auch schon alles, was sie herausgefunden hatten. Theorien. Die Täter – wenn es denn Männer waren, denn Sperma war nie gefunden worden – waren nie gefasst worden. Doch der Verbandschef und andere Klugscheißer erzählten den jungen
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