Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Minuten danach auf dem Flur stand und Harry zu dem Hörsaal eilte, in dem die Studenten bereits auf ihn warteten, dachte Beate, dass vielleicht etwas daran war, dass die Liebe einer Frau einen Mann erlösen konnte. Und wenn das so war, bezweifelte sie stark, dass das Pflichtgefühl einer anderen Frau ausreichte, um ihn zurück in die Hölle zu treiben. Trotzdem war genau das ihre Aufgabe. Er sah so schockierend gesund und glücklich aus. Wie gerne hätte sie ihn einfach gehen lassen. Aber sie wusste genau, dass die Geister der ermordeten Kollegen bald wieder auftauchen würden. Und darauf folgte der nächste Gedanke: Sie würden nicht die Letzten sein.
Sie rief Harry sofort an, als sie wieder in ihrem Heizungsraum waren.
Rico Herrem schrak aus dem Schlaf auf.
Er blinzelte ein paarmal im Dunkeln, bis sein Blick die weiße Leinwand drei Stuhlreihen vor ihm fokussierte, auf der eine dicke Frau den Schwanz eines Hengstes lutschte. Er spürte, wie sein rasender Puls sich etwas beruhigte. Kein Grund zur Panik, er war noch immer im Fischladen, geweckt hatte ihn nur der Neuankömmling, der in der Reihe hinter ihm Platz genommen hatte. Rico öffnete den Mund, versuchte etwas von dem Sauerstoff der stickigen Luft in die Lunge zu bekommen. Es roch nach Schweiß, Zigaretten und etwas, das Fisch hätte sein können, aber kein Fisch war. Seit vierzig Jahren verkaufte Moens Fischladen über der Fischtheke relativ frischen Fisch und unter dem Tresen relativ frische Pornos, und als Moen in Rente gegangen war, um sich etwas systematischer um den Verstand zu saufen, hatte der neue Besitzer im Keller ein rund um die Uhr geöffnetes Pornokino eröffnet. Nach dem Aufkommen von VHS und DVD hatten sie Kunden verloren und sich auf die Beschaffung und das Vorführen von Filmen spezialisiert, die man im Netz nicht zu sehen bekam, jedenfalls nicht, ohne mit einem Besuch der Polizei rechnen zu müssen.
Der Ton war so leise, dass Rico die Onaniergeräusche im Dunkel um sich herum hören konnte. Das sollte so sein, wobei ihm selbst die jugendliche Faszination für das Gruppenonanieren längst abhandengekommen war. Er hielt sich aus einem ganz anderen Grund hier auf, seit er vor zwei Tagen aus dem Gefängnis entlassen worden war, einzig unterbrochen von notwendigen kurzen Abstechern, um etwas zu essen, aufs Klo zu gehen oder sich etwas zu trinken zu holen. Er hatte noch immer vier Rohypnolpillen in der Tasche, aber die mussten noch eine Weile reichen. Natürlich konnte er nicht den Rest seiner Tage hier in Moens Fischladen verbringen. Er hatte seine Mutter überredet, ihm zehntausend Kronen zu leihen, und bis die thailändische Botschaft das erweiterte Touristenvisum fertig hatte, bot ihm der Fischladen die notwendige Dunkelheit und Anonymität, um nicht gefunden zu werden.
Er inhalierte, hatte aber das Gefühl, als bestünde die Luft bloß aus Stickstoff, Argon und Kohlendioxid. Er sah auf die Uhr. Der selbstleuchtende Zeiger wies auf die Sechs. Spätnachmittag oder früher Morgen? Hier drinnen herrschte ewige Nacht, doch es musste Nachmittag sein. Das Gefühl, ersticken zu müssen, kam in Wellen. Er durfte jetzt keinen klaustrophobischen Anfall bekommen. Nicht bevor er außer Landes war. Weg. Weit weg von Valentin. Verdammt, wie er sich nach seiner Zelle sehnte. Nach der Sicherheit, der Einsamkeit, der Luft, die sich zu atmen lohnte.
Die Frau auf der Leinwand arbeitete hart, musste dabei aber ein paar Meter laufen, weil das Pferd einige Schritte nach vorne machte, so dass das Bild einen Augenblick lang unscharf war.
»Hallo, Rico.«
Rico erstarrte. Die Stimme war leise, fast flüsternd, und bohrte sich wie ein Eiszapfen in seinen Gehörgang.
» Vanessa’s Friends . Ein echter Klassiker aus den Achtzigern. Wusstest du, dass Vanessa bei den Aufnahmen ums Leben gekommen ist? Sie wurde von einer Stute zu Tode getrampelt. Bestimmt aus Eifersucht, oder was meinst du?«
Rico wollte sich umdrehen, aber eine Hand legte sich um den oberen Teil seines Nackens und hielt ihn wie in einem Schraubstock fest. Er wollte schreien, als sich eine andere Hand in einem Handschuh über Mund und Nase legte. Rico sog den Geruch von saurer, nasser Wolle ein.
»Es war enttäuschend leicht, dich zu finden. Das Perversenkino. War doch ziemlich klar, oder?« Leises Lachen. »Außerdem leuchtet dein roter Schädel hier drinnen wie ein Leuchtturm. Sieht aus, als würde dein Ekzem zurzeit richtig Spaß haben, Rico, das lebt auf, wenn man Stress hat, nicht
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